PAPST FRANZISKUS
GENERALAUDIENZ
Audienzhalle
Mittwoch, 4. Januar 2023
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Katechese über die geistliche Unterscheidung. 14. Die geistliche Begleitung
Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag!
Bevor ich mit dieser Katechese beginne, möchte ich, dass wir uns all jenen anschließen, die hier nebenan Benedikt XVI. die letzte Ehre erweisen, und meine Gedanken ihm zuwenden, der ein großer Meister der Katechese gewesen ist. Sein scharfsinniges und feines Denken war nicht selbstbezogen, sondern kirchlich, denn er wollte uns immer zur Begegnung mit Jesus begleiten. Jesus, der Gekreuzigte und Auferstandene, der Lebendige und der Herr, war das Ziel, zu dem Papst Benedikt uns geführt hat, indem er uns an die Hand genommen hat. Er möge uns helfen, in Christus die Freude am Glauben und die Hoffnung im Leben neu zu entdecken.
Mit der heutigen Katechese schließen wir den Zyklus ab, der dem Thema der geistlichen Unterscheidung gewidmet ist, und wir tun es, indem wir den Diskurs über die Hilfsmittel, die sie unterstützen können und müssen, vervollständigen. Eines von ihnen ist die geistliche Begleitung, die vor allem für die Selbsterkenntnis wichtig ist. Diese ist, wie wir gesehen haben, eine unverzichtbare Voraussetzung für die Unterscheidung. Sich im Spiegel zu betrachten, allein, hilft nicht immer, weil man das Bild verzerren kann. Sich dagegen mit Hilfe eines anderen im Spiegel zu betrachten, das hilft sehr, weil der andere dir die Wahrheit sagt – wenn er ehrlich ist – und dir so hilft.
Die Gnade Gottes in uns wirkt immer in unserer Natur. Wir können an ein Gleichnis aus dem Evangelium denken und die Gnade mit der guten Saat und die Natur mit dem Boden vergleichen (vgl. Mk 4,3-9). Vor allem ist es wichtig, sich zu erkennen zu geben, ohne Furcht, die schwächeren Aspekte mitzuteilen, wo wir entdecken, dass wir verletzlich und schwach sind oder Angst haben, verurteilt zu werden. Sich zu erkennen geben, sich einem Menschen zeigen, der uns auf dem Lebensweg begleitet. Er soll nicht für uns entscheiden, nein: sondern er soll uns begleiten. Denn die Schwäche ist in Wirklichkeit unser wahrer Reichtum: Wir sind reich in der Schwäche, alle. Das ist der wahre Reichtum, den wir lernen müssen zu achten und anzunehmen, denn wenn er Gott dargebracht wird, macht er uns fähig zu Zärtlichkeit, Barmherzigkeit und Liebe. Wehe jenen Menschen, die sich nicht schwach fühlen: Sie sind hart, diktatorisch. Jene Menschen dagegen, die demütig die eigenen Schwächen anerkennen, sind verständnisvoller gegenüber den anderen. Die Schwäche – kann ich sagen – macht uns menschlich. Nicht zufällig versucht die erste der drei Versuchungen Jesu in der Wüste – jene, die mit dem Hunger verbunden ist –, uns die Schwäche zu rauben, indem sie sie uns als ein Übel vor Augen stellt, von dem man sich befreien muss, ein Hindernis, wie Gott zu sein. Tatsächlich ist sie jedoch unser kostbarster Schatz: Denn Gott wollte, um uns sich selbst ähnlich zu machen, unsere Schwäche bis ins Letzte mit uns teilen. Betrachten wir den Gekreuzigten: Gott ist in Schwäche hinabgestiegen. Betrachten wir die Krippe, die in einer großen menschlichen Schwäche daherkommt. Er hat unsere Schwäche mit uns geteilt.
Und die geistliche Begleitung, wenn sie fügsam ist gegenüber dem Heiligen Geist, hilft dabei, Irrtümer – auch schwere Irrtümer – in unserem Selbstbild und in der Beziehung zum Herrn aufzudecken. Das Evangelium stellt uns verschiedene Beispiele klärender und befreiender Gespräche vor Augen, die Jesus geführt hat. Denken wir zum Beispiel an das Gespräch mit der Samariterin. Wir lesen es, wir lesen es, und immer wieder ist da diese Weisheit und Zärtlichkeit Jesu; denken wir an das Gespräch mit Zachäus, denken wir an das mit der Sünderin, denken wir an das mit Nikodemus und mit den Emmausjüngern: die Art, wie der Herr sich annähert. Die Menschen, die eine wahre Begegnung mit Jesus haben, haben keine Angst, ihm das Herz zu öffnen, die eigene Verletzlichkeit, die eigene Unzulänglichkeit, die eigene Schwäche zu zeigen. Auf diese Weise wird ihre Selbstmitteilung zur Erfahrung des Heils, der unentgeltlich angenommenen Vergebung.
Einem anderen zu erzählen, was wir erlebt haben oder wonach wir suchen, hilft uns, Klarheit in uns selbst zu schaffen, indem wir die vielen Gedanken ans Licht bringen, die in uns wohnen und die uns oft beunruhigen mit ihrer ständigen Wiederkehr. Wie oft kommen uns in dunklen Augenblicken solche Gedanken: »Ich habe alles falsch gemacht, ich bin nichts wert, keiner versteht mich, ich werde es nie schaffen, ich bin zum Scheitern verurteilt«, wie oft haben wir uns solche Gedanken gemacht. Falsche und giftige Gedanken, die die Auseinandersetzung mit dem anderen zu entlarven hilft, so dass wir uns vom Herrn geliebt und wertgeschätzt fühlen können, so wie wir sind, fähig, Gutes zu tun für ihn. Wir entdecken überrascht andere Sichtweisen, gute Zeichen, die in uns schon immer vorhanden waren. Es ist wahr, wir können unsere Schwächen mit dem anderen teilen, mit dem, der uns im Leben, im geistlichen Leben begleitet, mit dem Meister des geistlichen Lebens, sei es ein Laie oder ein Priester, und sagen: »Schau, was mir geschieht: Ich bin ein armer Tropf, mir passieren diese Dinge.« Und der Begleiter antwortet: »Ja, wir alle haben diese Dinge.« Das hilft uns, sie gut zu klären und zu sehen, woher die Wurzeln kommen, und sie so zu überwinden.
Der Mann oder die Frau, die begleiten – der Begleiter oder die Begleiterin –, ersetzen nicht den Herrn, sie tun nicht die Arbeit anstelle des begleiteten Menschen, sondern sie gehen an seiner Seite, ermutigen ihn, das zu verstehen, was in seinem Herzen vorgeht, dem Ort schlechthin, an dem der Herr spricht. Der geistliche Begleiter, den wir als geistlichen Leiter bezeichnen – ich mag diesen Begriff nicht, ich ziehe den Ausdruck »geistlicher Begleiter« vor, er ist besser – ist jener, der zu dir sagt: »Nun gut, aber schau mal hier, schau mal da.« Er lenkt deine Aufmerksamkeit auf Dinge, die vielleicht geschehen; er hilft dir, die Zeichen der Zeit, die Stimme des Herrn, die Stimme des Versuchers, die Stimme der Schwierigkeiten, die du nicht überwinden kannst, besser zu verstehen. Daher ist es sehr wichtig, nicht allein unterwegs zu sein. Es gibt ein Sprichwort der afrikanischen Weisheit – denn sie haben jene Stammesmystik –, das lautet: »Wenn du schnell ankommen willst, dann geh allein; wenn du sicher ankommen willst, dann geh mit den anderen«, geh begleitet, geh mit deinem Volk. Das ist wichtig. Im geistlichen Leben ist es besser, sich von jemandem begleiten zu lassen, der unsere Dinge kennt und uns hilft. Und das ist die geistliche Begleitung.
Diese Begleitung kann fruchtbar sein, wenn man von verschiedenen Seiten her die Erfahrung der geistlichen Kindschaft und Geschwisterlichkeit gemacht hat. In dem Augenblick, in dem wir entdecken, dass wir Kinder Gottes sind, entdecken wir, dass wir Geschwister sind, Kinder desselben Vaters. Darum ist es unverzichtbar, in eine Weggemeinschaft eingebunden zu sein. Wir sind nicht allein, wir sind Menschen eines Volkes, einer Nation, eine Stadt, die unterwegs ist, einer Kirche, einer Pfarrei, dieser oder jener Gruppe… eine Weggemeinschaft. Zum Herrn geht man nicht allein: Das geht nicht. Das müssen wir gut verstehen. Wie im Bericht des Evangeliums über den Gelähmten werden wir oft getragen und geheilt durch den Glauben eines anderen Menschen (vgl. Mk 2,1-5), der uns hilft, voranzugehen, weil wir alle manchmal innere Lähmungen haben und jemanden brauchen, der uns hilft, jenen Konflikt zu überwinden. Zum Herrn geht man nicht allein, daran müssen wir uns immer erinnern; andere Male sind wir es, die diese Verpflichtung auf sich nehmen zugunsten eines anderen Bruders oder einer Schwester, und wir sind Begleiter, um jenem anderen zu helfen. Ohne die Erfahrung der Kindschaft und der Geschwisterlichkeit kann die Begleitung Anlass geben zu unrealistischen Erwartungen, zu Irrtümern, zu Formen der Abhängigkeit, die den Menschen in einem kindlichen Stadium belassen. Begleitung, aber als Kinder Gottes und Geschwister untereinander.
Die Jungfrau Maria ist Lehrmeisterin der geistlichen Unterscheidung: Sie spricht wenig, hört viel zu und bewahrt alles in ihrem Herzen (vgl. Lk 2,19). Die drei Haltungen der Gottesmutter: wenig sprechen, viel zuhören und im Herzen bewahren. Und die wenigen Male, in denen sie spricht, hinterlässt es eine Spur. Zum Beispiel gibt es im Evangelium nach Johannes ein ganz kurzes Wort, das Maria gesagt hat und das ein Auftrag für die Christen aller Zeiten ist: »Was er euch sagt, das tut!« (2,5). Es ist seltsam: Einmal habe ich einer sehr guten, sehr frommen alten Dame zugehört. Sie hatte nicht Theologie studiert, sie war sehr einfach. Und sie hat zu mir gesagt: »Wissen Sie, welche Geste die Gottesmutter immer macht?« Ich weiß nicht: Sie liebkost dich, sie ruft dich… »Nein: Die Gottesmutter macht diese Geste« [er zeigt es mit dem Finger]. Ich verstand es nicht, und fragte: »Was bedeutet das?« Und die alte Dame antwortete mir: »Sie zeigt immer auf Jesus.« Das ist schön: Die Gottesmutter nimmt nichts für sich, sie zeigt auf Jesus. Was Jesus euch sagt, das tut: So ist die Gottesmutter. Maria weiß, dass der Herr zum Herzen eines jeden Menschen spricht, und sie bittet darum, dieses Wort in Tätigkeiten und Entscheidungen zu verwandeln. Sie hat mehr als jeder andere verstanden, das zu tun, und tatsächlich ist sie in den grundlegenden Augenblicken des Lebens Jesu anwesend, besonders in der letzten Stunde des Todes am Kreuz.
Liebe Brüder und Schwestern, wir beenden diese Katechesereihe über die geistliche Unterscheidung: Die Unterscheidung ist eine Kunst, eine Kunst, die man erlernen kann und die ihre eigenen Regeln hat. Wenn sie gut erlernt wird, gestattet sie, die geistliche Erfahrung immer schöner und geordneter zu erleben. Vor allem ist die Unterscheidung ein Geschenk Gottes, das immer erbeten werden muss, ohne sich jemals anzumaßen, Experte zu sein und sich selbst zu genügen. Herr, schenk mir die Gnade, in den Augenblicken des Lebens zu erkennen, was ich tun soll, was ich verstehen soll. Schenk mir die Gnade, die Geister zu unterscheiden, und schenk mir den Menschen, der mir bei der Unterscheidung hilft.
Die Stimme des Herrn kann man immer erkennen, sie hat einen eigenen Stil, sie ist eine ruhige Stimme, sie ermutigt und beruhigt in den Schwierigkeiten. Das Evangelium ruft uns das beständig in Erinnerung: »Fürchte dich nicht« (Lk 1,30). Wie schön ist doch jenes Wort des Engels an Maria nach der Auferstehung Jesu; »fürchte dich nicht«, »habt keine Angst«, genau das ist der Stil des Herrn: »Fürchte dich nicht.« »Fürchte dich nicht!«, sagt der Herr auch heute immer wieder zu uns; »fürchte dich nicht«: Wenn wir auf sein Wort vertrauen, werden wir die Partie des Lebens gut spielen und können anderen helfen. Wie der Psalm sagt, ist sein Wort unserem Fuß eine Leuchte, ein Licht für unsere Pfade (vgl. 119,105).
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Liebe Pilger deutscher Sprache! Mit den Worten unseres lieben Verstorbenen Benedikt XVI. möchte ich euch zurufen: „Wer glaubt, ist nie allein!“ Wer Gott zum Vater hat, hat viele Brüder und Schwestern. In diesen Tagen erleben wir in besonderer Weise, wie umfassend diese Weggemeinschaft des Glaubens ist und dass sie auch mit dem Tod nicht endet. Gott segne und beschütze euch!
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