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PAPST FRANZISKUS

FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"

 

Das Risiko der Heuchelei

Freitag, 11. September  2015

 

aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 38, 18. September 2015

 

»Wenn man einen Menschen finden würde, der nie, niemals, wirklich nie schlecht über einen anderen geredet hat, dann könnte man ihn auf der Stelle heiligsprechen«: Franziskus bediente  sich einer wirkungsträchtigen Formulierung, um vor der »heuchlerischen« Versuchung zu warnen, stets über die anderen zu Gericht zu sitzen. Vielmehr lud er dazu ein, »den Mut aufzubringen, den ersten Schritt zu tun«, indem man die eigenen Fehler und Schwächen zugebe und sich selbst anklage. Das ist der auf die Themen der Vergebung und der Barmherzigkeit ausgerichtete Ratschlag, den der Papst während der Frühmesse erteilte, die er am Freitag, 11. September, in der  Kapelle des Hauses Santa Marta feierte. Denn »die Heuchelei«, so mahnte er, »ist ein Risiko, dem »wir alle ausgesetzt sind, angefangen beim Papst bis ganz nach unten«.

»Dieser Tage«, so merkte Franziskus gleich zu Beginn an, »lässt uns die Liturgie sehr oft über den Frieden nachdenken, über das Werk der Friedensstiftung und der Versöhnung, das Jesus vollbracht hat, wie auch über unsere Pflicht, dasselbe zu tun«, als »Frieden zu stiften, die Versöhnung zuwege zu bringen«. Überdies, so fuhr der Papst fort, »hat uns die Liturgie auch dazu gebracht, über den Stil des Christen nachzudenken, vor allem über zwei Worte, Worte, die Jesus in die Tat umgesetzt hat: Vergebung und Barmherzigkeit. Allerdings, so drängte Franziskus, »müssen auch wir sie verwirklichen«. Und »auf diese Art und Weise«, so fuhr er fort, »hat uns die Liturgie dieser Tage dazu gebracht, hieran zu denken, nachzudenken über diesen Weg der Barmherzigkeit, der Vergebung, über den christlichen Stil mit diesen Gefühlen des Erbarmens, der Güte, Demut, Milde, Geduld«. Tatsächlich bestehe der christliche Stil darin, »uns gegenseitig zu ertragen«: eine Einstellung, die »zur Liebe, zur Vergebung, zur Großmütigkeit führt«. Denn »gerade der christliche Stil ist großmütig, zeichnet sich durch Größe aus«.

»Der Herr«, so erläuterte der Papst, »hat uns dann gesagt, dass mit diesem großen Geist dann auch etwas anderes einhergehe: jene Großherzigkeit, die Großherzigkeit der Vergebung, die Großherzigkeit der Barmherzigkeit«. Und »er drängt uns dazu, so zu sein, großherzig, und zu geben: alles von uns aus zu geben, von Herzen, vor allem aber Liebe zu geben«. Aus dieser Perspektive, so fügte er hinzu, »spricht er zu uns über die ›Belohnung‹: Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet werden; verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt werden«. Das also, so bekräftigte Franziskus, »ist die Zusammenfassung, die der Herr gibt: Vergebt, so wird euch vergeben; gebt, so wird euch gegeben«. Aber »Was wird euch gegeben werden? Ein gutes, gestopft volles, übervolles, überlaufendes Maß«, so erinnerte der Papst« »wird euch in den Schoß geschüttet, denn mit demselben Maß, mit dem ihr selbst messt, wird euer Weg gemessen werden«. Kurz: »Wenn du über ein großes Maß an Liebe, Barmherzigkeit, Großherzigkeit verfügst, dann wirst du ebenso beurteilt; andernfalls nach deinem eigenen Maß«. So »lautet die Zusammenfassung des Gedankens, der in diesen Tagen der Liturgie zugrunde liegt«, machte der Papst präsent. Wir alle, so kommentierte er, »können sagen: ›Das ist schön, ja!

Aber, Vater, es ist schön, aber wie stellt man das an, wie fängt man das an? Und was ist der erste Schritt, um auf diesem Weg zu gehen?« Gerade in der Liturgie, so lautete die Antwort des Papstes, sähen wir diesen »ersten Schritt: sowohl in der Ersten Lesung als auch im Tagesevangelium«. Und »der erste Schritt ist die Selbstanklage, der Mut, sich selbst zu beschuldigen, bevor man die anderen beschuldigt«. Der Apostel Paulus (1 Tim1,1-2.12-14) »lobt den Herrn, weil er ihn erwählt hat und sagt Dank, weil er ihn ›für treu gehalten und in seinen Dienst genommen hat, obwohl ich ihn früher lästerte, verfolgte und verhöhnte‹«. Das, so erläuterte Franziskus, »war Barmherzigkeit«. Paulus »sagt von sich selbst, was er war: ein Lästerer – aber wer lästerte, war zur Steinigung verurteilt, zum Tod«. Paulus sei also ein »Verfolger Jesu Christi« gewesen, »ein gewalttätiger Mensch, ein Mann, der keinen Frieden in seiner Seele hatte und auch mit den anderen  Menschen keinen Frieden schloss«. Und doch »lehrt uns Paulus« heute, »uns selbst zu beschuldigen«.

Im Tagesevangelium (Lk 6,39-42) »lehrt uns der Herr, mit diesem Bild des Splitters im Auge deines Bruders und des Balkens in deinem, dasselbe: Bruder, ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge, klage erst dich selbst an; und erst dann wirst du gut genug sehen, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders zu ziehen«. Der »erste Schritt« sei also: »Klage dich selbst an«. So regte Franziskus eine Gewissenerforschung auch dann an, »wenn wir anfangen, über andere Leute nachzusinnen«, ungefähr so: »Aber schau den da mal an, den da, und jenen, der hier tut dies, und jener…« Gerade in solchen Augenblicken empfehle es sich, sich die Frage zu stellen: »Und was tust du selbst? Was tust du? Bin ich gerecht? Fühle ich mich als Richter, der den Splitter aus den Augen der anderen ziehen und die anderen anklagen kann?«

Für Situationen dieser Art wähle Jesus das Wort »Heuchler«, das er, wie der Papst bemerkte, »nur auf jene Leute anwendet, die zwei Gesichter, zwei Seelen haben: Heuchler!« Der Mann und die Frau, »die es nicht lernen, sich selbst anzuklagen, werden zu Heuchlern«. Alle, klar? Alle! Angefangen beim Papst: alle!« Tatsächlich, so fuhr er fort, »ist einer von uns, wenn er nicht dazu imstande ist, sich selbst anzuklagen und erst danach, sofern erforderlich, die Dinge, die die anderen betreffen, den dafür Zuständigen zu sagen, kein Christ, er wird kein Teil dieses so schönen Werkes der Versöhnung, der Friedensstiftung,  der Zärtlichkeit. Der Güte, der Vergebung, der Großmütigkeit, des Erbarmens, das Jesus Christus uns gebracht hat«.

Insofern, so bekräftigte der Papst, »bitte den Herrn, wenn du es nicht zuwege bringst, diesen ersten Schritt zu tun, um eine Umkehr«. Und »der erste Schritt ist« also »dieser: Bin ich dazu imstande,  mich selbst anzuklagen? Und wie macht man das?« Im Grunde sei die Antwort »ganz einfach, es ist eine einfache Übung«. Franziskus empfahl diesen praktisch Rat: »Wenn es mir in den Sinn kommt, an die Fehler der anderen zu denken, einzuhalten: »Ach, und ich selbst?« Wenn ich Lust dazu bekomme, anderen von den Fehlern anderer Leute zu erzählen, einzuhalten: »Und ich selbst?«

Man müsse auch »den Mut haben, den Paulus aufbringt«, als er an Timotheus über sich selbst schreibt: »Ich war ein Lästerer, ein Verfolger, ein gewalttätiger Mensch«. Aber, so fragte der Papst, »wie viel können wir über uns selber sagen?« Also »ersparen wir uns die Kommentare über die anderen und kommentieren besser uns selbst«. Und auf diese Weise täten wir tatsächlich »den ersten Schritt auf dieser Straße der Großmütigkeit«. Denn wer »es nur versteht, die Splitter im Auge der anderen zu sehen, endet in der Gemeinheit: eine gemeine Seele, völlig kleinkariert, voller Geschwätz«. Bevor er mit der Liturgie fortfuhr, forderte der Papst dazu auf, den Herrn im Gebet »um die Gnade zu bitten – das ist auch der Mut, den Paulus aufbringt –, dem Rat Jesu zu folgen: großzügig zu sein beim Vergeben, großzügig zu sein in der Barmherzigkeit«.

Deshalb, so schloss er, »bedarf es, um einen Menschen heiligzusprechen, eines ganzen Prozesses, es braucht ein Wunder, und dann spricht ihn die Kirche heilig. Aber wenn man einen Menschen finden würde, der nie, niemals, wirklich nie schlecht über einen anderen geredet hat, dann könnte man ihn auf der Stelle heiligsprechen. Das ist schön, nicht wahr?«

 



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