PAPST FRANZISKUS
FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"
Jene, die weitergehen
Montag, 9. Oktober 2017
(aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 43, 27. Oktober 2017)
Ist angesichts der vielen »Wunden« der Menschen, denen der Christ begegnet, seine Haltung jene des Räubers, der sie schlägt, des Priesters oder des »Katholiken in Leitungsposition«, der hinschaut und weitergeht, oder ist sie die Haltung Jesu, des Samariters, der sich wirklich seines »Nächsten« annimmt und bis zum Ende seine Pflicht tut? Es ist eine intensive Gewissenserforschung, die Papst Franziskus am Montag, den 9. Oktober bei der Messe in Santa Marta unterbreitete, wobei er die Aktualität des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter neu lebendig werden ließ.
Der Abschnitt aus dem Evangelium nach Lukas (10,25-37) in der heutigen Liturgie werde mit den Worten jener eröffnet, »die Jesus auf die Probe stellen wollen«, merkte der Papst sofort an. Doch »er gibt eine höher gehende Antwort, er antwortet mit dem Geheimnis, das er selbst ist, oder mit dem Geheimnis des Menschen«. Und so »antwortet er zum Beispiel den Priestern und Ältesten mit dem Gleichnis der Weinbauern, das wir gestern gehört haben, wo das Geheimnis Jesu, des getöteten Sohnes, zu sehen ist«. Andere Male dagegen »antwortet er jenen, die die Ehebrecherin gebracht hatten, oder den Sadduzäern, die ihn nach dem ewigen Leben fragten, mit dem Geheimnis des Menschen«.
Wie dem auch sei: Die Antworten Jesu »sind immer höher zielende Antworten«. Dies gehe so weit, dass »er, auch als er sie verurteilt, dies von einem hohen Punkt aus tut«. Im Abschnitt aus dem Lukasevangelium, so der Papst, »ist da gerade ein Gesetzeslehrer, der ihn auf die Probe stellen will, und da Jesus ihn das Gebot sagen lässt und er es nicht versteht, aus dieser kleinen Falle herauszukommen, die Jesus ihm gestellt hatte, fragt er: ›Und wer ist mein Nächster?‹« An diesem Punkt des Abschnitts aus dem Evangelium erzählt Jesus »diese Geschichte, in der es sechs Akteure gibt: die Räuber, den armen tödlich verletzten Mann, den Priester, den Leviten, den Mann aus Samarien – einen Heiden, der nicht zum Volk der Juden gehörte – und den Wirt der Herberge«. Und »so will diese Geschichte das Geheimnis Jesu erklären, diese Geschichte bringt uns dem Geheimnis Jesu näher«.
»Was tun diese Leute«, fragte sich Franziskus, angesichts dieses »armen Mannes, der dort verletzt liegt« und fast schon am Sterben sei? »Die Räuber sind zufrieden abgezogen, da sie viele gute Dinge genommen hatten und ihnen das Leben dieses Mannes gleichgültig war.« Dann kommt »der Priester, der ein Mann Gottes sein sollte«, doch das Evangelium sagt uns, dass »er ihn sah und weiterging«. Aber »auch der Levit, der dem Kult und dem Gesetz nahe stand, sah ihn und ging weiter«.
Leider, so der Papst, sei dies »eine unter uns weitverbreitete Verhaltensweise: den Blick auf ein Unglück richten, auf etwas Hässliches schauen und weitergehen. Und dann in der Zeitung davon lesen, ein wenig als Skandal oder reißerisch aufgemacht.« Doch »dieser Heide, ein Sünder, der auf Reisen war, ›sah ihn und hatte Mitleid‹ mit dem verletzten Mann«. Und »Lukas beschreibt gut die Haltung des Heiden: ›Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin – er entfernte sich nicht, sondern trat näher –, goss Öl und Wein auf seine Wunden – er! – und verband sie.‹« Jener Heide also »ließ ihn nicht dort liegen« und sagte sich: »ich habe meine Pflicht getan, und jetzt gehe ich«.
Ganz im Gegenteil, Lukas fährt mit der Geschichte fort und sagt: »Dann hob er ihn auf sein Reittier – und gewiss ging er zu Fuß und auf dem Reittier war der verletzte Mann –, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn«. Eine Haltung, als sage er: »Der gehört mir, ich kümmere mich um diesen Mann.« Mehr noch: Jener Heide »verbrachte die Nacht dort«, neben dem verletzten Mann. Der Abschnitt aus dem Evangelium, so der Papst weiter, erkläre uns: »Da er am anderen Morgen weiterziehen musste, holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: ›Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst – mehr als zwei Denare –, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.‹« Gerade das, so erklärte der Papst, »ist das Geheimnis Christi: das ist es, was Jesus getan hat, er nahm die Gestalt des Dieners an, er wurde zum Diener, er erniedrigte, er entäußerte sich und starb für uns«.
Kurz, so Franziskus weiter: »der Absicht dieses Gesetzeslehrers, ihn auf die Probe zu stellen, entgegnet Jesus mit seinem eigenen Geheimnis«. Der Herr »ist der Samariter und dieser Mann war in Verlegenheit: Doch wie endet es? Er steht schweigend da und Jesus stellt ihm eine Frage: ›Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?‹« Er antwortete: »Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat.« Da sagte Jesus zu ihm: »Dann geh und handle genauso!«
Das also sei »das Geheimnis Jesu: er erniedrigte sich, dann: er ging nicht weiter, er kam zu uns, die wir tödlich verwundet waren, er sorgte sich um uns, er zahlte und zahlt auch weiterhin für uns«. Die von Lukas im Evangelium festgehaltenen Worte seien klar: »Was du mehr ausgibst, werde ich dir bezahlen, wenn ich wiederkomme «. Jesus »wird bezahlen, wenn er das zweite Mal kommen wird: er wird für uns so bezahlen, wie er bereits bezahlt hat«.
»Das ist keine Geschichte für Kinder: das ist das Geheimnis Jesu Christi«, unterstrich der Papst erneut. »Wenn wir auf dieses Gleichnis schauen, werden wir die Tiefe, die Größe des Geheimnisses Jesu Christi besser begreifen.« So sei beispielsweise »der Gesetzeslehrer still weg[gegangen], voller Scham: er begriff das Geheimnis Christi nicht«. Vielleicht «hatte er jenes menschliche Prinzip verstanden, das uns dem Verständnis des Geheimnisses Christi näherbringt: dass ein jeder Mensch einen anderen von oben nach unten nur dann anschauen soll, wenn er ihm beim Aufstehen helfen soll. Und wenn einer das tut, ist er auf einem guten Weg, er ist auf der guten Straße, hin zu Jesus.«
»Gern denke ich an den Wirt der Herberge«, vertraute der Papst an, »der der große Unbekannte ist: Was verstand er, der Wirt?« In Wirklichkeit »verstand er nichts, doch er war voller Staunen: Er spürte das Staunen über eine Begegnung mit jemandem, der gewisse Dinge tat, von denen er nie gehört hatte, dass sie möglich sind.« Und »das Staunen des Wirts ist gerade die Begegnung mit Christus«.
»Es wird uns gut tun, diesen Abschnitt aus dem 10. Kapitel des Lukasevangeliums zu lesen«, so der erneute Aufruf des Papstes, der gleichzeitig die Fragestellungen für eine Gewissenserforschung vorgab, »und uns auch zu fragen: Was tue ich? Bin ich ein Räuber, ein Betrüger, ein Korrupter? Bin ich einer der Räuber dort? Bin ich ein Priester, der schaut, der sieht und dann auf die andere Seite schaut und weitergeht? Oder ein Katholik in einer Leitungsposition, der dasselbe tut? Oder bin ich ein Sünder? Einer, der wegen seiner Sünden verurteilt werden muss? Und nähere ich mich, werde ich zum Nächsten, sorge ich mich um den, der dessen bedarf? Was tue ich, ich, angesichts so vieler Wunden, so vieler verletzter Menschen, auf die ich täglich treffe? Handle ich wie Jesus? Werde ich zum Diener? Gerade aus der Perspektive dieser persönlichen Gewissenserforschung, so der Papst abschließend, »wird es uns gut tun, darüber nachzudenken und dabei diesen Abschnitt immer wieder zu lesen«, denn »hier offenbart sich das Geheimnis Jesu Christi: Weil wir Sünder sind, ist er zu uns gekommen, um uns zu heilen und sein Leben für uns hinzugeben.«
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