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APOSTOLISCHE REISE VON PAPST FRANZISKUS
NACH KUBA, IN DIE VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA
UND BESUCH DER VEREINTEN NATIONEN

(19.-28. SEPTEMBER 2015)
 

EUCHARISTIEFEIER

PREDIGT DES HEILIGEN VATERS

Plaza de la Revolución, Havanna
Sonntag, 20. September2015

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Jesus stellt seinen Jüngern eine scheinbar indiskrete Frage: »Worüber habt ihr unterwegs gesprochen?« (Mk 9,33). Eine Frage, die er auch uns heute stellen kann. Worüber sprecht ihr täglich? Was sind eure Bestrebungen? »Sie schwiegen«, sagt das Evangelium, »denn sie hatten unterwegs miteinander darüber gesprochen, wer [von ihnen] der Größte sei« (Mk 9,34). Sie schämten sich, Jesus zu sagen, worüber sie gesprochen hatten. Wie die Jünger von damals, so kann heute auch uns dieselbe Diskussion begleiten: Wer ist der Größte?

Jesus besteht nicht auf seiner Frage; er zwingt die Jünger nicht, ihm zu antworten, worüber sie unterwegs gesprochen haben, doch seine Frage bleibt nicht nur im Gedächtnis, sondern auch im Herzen der Jünger bestehen.

Wer ist der Größte? – Eine Frage, die uns das ganze Leben hindurch begleiten wird, und in den verschiedenen Lebensphasen werden wir herausgefordert sein, sie zu beantworten. Wir können dieser Frage nicht ausweichen; sie ist ins Herz eingraviert. Ich erinnere mich, wie mehr als einmal in Familienzusammenkünften die Kinder gefragt wurden: Wen hast du mehr lieb, Papa oder Mamma? Das ist, als fragte man sie: Wer ist wichtiger für euch? Ist diese Frage so nur ein einfaches Kinderspiel? Die Geschichte der Menschheit ist durch die Art und Weise, auf diese Frage zu antworten, geprägt worden.

Jesus fürchtet die Fragen der Menschen nicht; er fürchtet weder die Menschheit noch das unterschiedliche Suchen, das diese anstellt. Im Gegenteil, er kennt die „Schlupfwinkel“ des menschlichen Herzens, und als guter Pädagoge ist er bereit, uns immer zu begleiten. Wie es seiner Art entspricht, nimmt er unser Suchen, unsere Bestrebungen an und gibt ihnen einen neuen Horizont. Wie es seiner Art entspricht, gelingt es ihm, eine Antwort zu geben, die fähig ist, eine neue Herausforderung zu stellen, indem er „die erwarteten Antworten“ oder das scheinbar Feststehende aus den Angeln hebt. Wie es seiner Art entspricht, stellt Jesus immer die Logik der Liebe auf. Eine Logik, die von allen gelebt werden kann, weil sie für alle ist.

Weit entfernt von jeglichem Elitismus, umfasst der Horizont Jesu nicht nur einige wenige Privilegierte, die fähig sind, zur „ersehnten Erkenntnis“ oder zu verschiedenen Ebenen der Spiritualität zu gelangen. Der Horizont Jesu ist immer ein Angebot für das tägliche Leben, auch hier auf „unserer Insel“ – ein Angebot, das dem Alltag immer einen gewissen Geschmack der Ewigkeit verleiht.

Wer ist der Größte? Jesus ist in seiner Antwort ganz einfach: »Wer der Erste [das heißt der Größte, der Bedeutendste] sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein« (Mk 9,35). Wer groß sein will, soll den anderen dienen und nicht sich der anderen bedienen.

Und das ist die große Paradoxie Jesu. Die Jünger diskutierten darüber, wer den wichtigsten Platz einnehmen werde, wer als Privilegierter auserwählt werden würde – es waren die Jünger, diejenigen, die Jesus am nächsten standen, und sie diskutierten über das! –, wer vom allgemeinen Recht, von der generellen Norm entbunden sein werde, um sich in einem Streben nach Überlegenheit von den anderen abzuheben. Wer schneller aufsteigen werde, um die Ämter zu besetzen, die gewisse Vorteile mit sich brächten.

Und Jesus bringt ihre Logik durcheinander, indem er ihnen einfach sagt, dass das authentische Leben im konkreten Engagement für den Nächsten gelebt wird. Das heißt, indem man dient.

Die Einladung zum Dienst beinhaltet eine Besonderheit, die wir beachten müssen. Dienen bedeutet zum großen Teil, Schwäche und Gebrechlichkeit zu beschützen. Dienen bedeutet, für die Schwachen in unseren Familien, in unserer Gesellschaft, in unserem Volk zu sorgen. Die leidenden, schutzlosen, verängstigten Gesichter sind es, auf die zu schauen und die konkret zu lieben Jesus uns einlädt. Eine Liebe, die in Taten und Entscheidungen Form annimmt. Eine Liebe, die sich in den verschiedenen Aufgaben zeigt, die wir als Bürger entfalten sollen. Die Menschen in ihrer Leiblichkeit mit ihrem Leben, ihrer Geschichte und besonders mit ihrer Gebrechlichkeit sind es, für die einzutreten, für die zu sorgen und denen zu dienen Jesus uns auffordert. Denn Christ zu sein schließt ein, der Würde der Mitmenschen zu dienen, für die Würde der Mitmenschen zu kämpfen und für die Würde der Mitmenschen zu leben. Darum ist der Christ immer aufgefordert, im konkreten Blick auf die Schwächsten sein Suchen, sein Streben und seine Sehnsucht nach Allmacht auszublenden.

Es gibt einen Dienst, der den anderen dienlich ist; doch wir müssen uns hüten vor dem anderen „Dienst“, vor der Versuchung des „Dienstes“, der sich der anderen bedient. Es gibt eine Form, den Dienst auszuüben, deren Interesse darin besteht, die „Meinen“ zu begünstigen im Namen des „Unsrigen“. Dieser Dienst lässt die „Deinen“ immer draußen und schafft eine Dynamik der Ausschließung.

Alle sind wir aufgrund der christlichen Berufung zu dem Dienst aufgefordert, der dienlich ist, und dazu, einander zu helfen, nicht den Versuchungen zum „Dienst, der sich bedient“ zu erliegen. Alle sind wir von Jesus eingeladen und angeregt, uns aus Liebe wechselseitig umeinander zu kümmern. Und das, ohne zur Seite zu blicken, um zu sehen, was der Nachbar tut oder zu tun unterlassen hat. Jesus sagt: »Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein« (Mk 9,35). Dieser wird der Erste sein. Jesus sagt nicht: Wenn dein Nachbar der Erste sein will, soll er dienen. Wir müssen uns vor dem beurteilenden Blick hüten und uns entschließen, an den verwandelnden Blick zu glauben, zu dem Jesus uns einlädt.

Diese Haltung, uns aus Liebe umeinander zu kümmern, läuft nicht auf Servilität und Unterwürfigkeit hinaus, sondern stellt im Gegenteil das Problem des Bruders oder der Schwester in den Mittelpunkt: Der Dienst schaut immer auf das Gesicht des Mitmenschen, berührt seine Leiblichkeit, spürt seine Nähe und in manchen Fällen sogar das „Kranke“ und sucht, ihn zu fördern. Darum ist der Dienst niemals ideologisch, denn man dient nicht Ideen, sondern man dient Menschen.

Das heilige gläubige Gottesvolk, das seinen Weg in Kuba geht, ist ein Volk, das Freude hat am Fest, an der Freundschaft und am Schönen. Es ist ein Volk, das singend und lobpreisend vorangeht. Es ist ein Volk, das Wunden hat wie jedes Volk, das aber versteht, mit offenen Armen da zu sein, ein Volk, das voller Hoffnung voranschreitet, denn es ist zu Großem berufen. Das ist die Saat, die eure Nationalhelden ausgestreut haben. Heute lade ich euch ein, diese Berufung zu pflegen, diese Gaben zu pflegen, die Gott euch geschenkt hat, aber ganz besonders möchte ich euch dazu auffordern, euch speziell der Schwäche eurer Brüder und Schwestern anzunehmen und ihnen zu dienen. Vernachlässigt sie nicht aufgrund von Vorhaben, die sich als verführerisch erweisen können, aber das Gesicht dessen, der neben euch steht, nicht beachten. Wir kennen und bezeugen die »unvergleichliche Kraft« der Auferstehung, die »überall Keime dieser neuen Welt hervorbringt« (vgl. Evangelii gaudium, 276.278).

Vergessen wir nicht die Frohe Botschaft von heute: Die Größe und Bedeutung eines Volkes, einer Nation, die Größe einer Person beruht immer auf der Art, wie man der Schwäche und Gebrechlichkeit der Mitmenschen dient. Und darin begegnen wir einer der Früchte wahrer Menschlichkeit.

Denn, liebe Brüder und Schwestern, „wer nicht lebt, um zu dienen, versteht nicht zu leben.“

 



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