ÖFFEENTLICHES ORDENTLICHES KONSISTORIUM FÜR DIE KREIERUNG NEUER KARDINÄLE
PAPSTMESSE
HOMILIE VON PAPST FRANZISKUS
Vatikanische Basilika
Samstag, 5. Oktober 2019
In der Mitte des Evangeliums, das wir gehört haben (Mk 6,30-37a), steht das »Mitleid« Jesu (vgl. V. 34). Mitleid ist ein Schlüsselwort des Evangeliums; es ist in Christi Herz eingeschrieben, es ist seit jeher in Gottes Herz eingeschrieben.
Viele Male sehen wir in den Evangelien, wie Jesus mit den Leidenden Mitleid empfindet. Und je mehr wir das lesen, je mehr wir das betrachten, desto mehr verstehen wir, dass das Mitleid des Herrn keine gelegentliche, vorübergehende Verhaltensweise, sondern eine Konstante ist, ja, es scheint die Haltung seines Herzens zu sein, in dem die Barmherzigkeit Gottes Fleisch wurde.
Markus zum Beispiel berichtet, dass, als Jesus anfing, in Galiläa umherzuziehen und zu predigen und Dämonen auszutreiben, ein Aussätziger zu ihm kam, vor ihm auf die Knie fiel und sagte: »Wenn du willst, kannst du mich rein machen. Jesus hatte Mitleid mit ihm; er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will – werde rein!« (1,40-42). In dieser Geste und in diesen Worten kommt die Sendung Jesu, des Erlösers aller Menschen, zum Ausdruck: er ist ein Erlöser, der mitleidet. Er verkörpert Gottes Willen, den kranken Menschen von dem Aussatz der Sünde rein zu machen; er ist „Gottes ausgestreckte Hand“, die unser krankes Fleisch berührt und dieses Werk vollbringt und so den trennenden Abgrund zuschüttet.
Jesus ist auf der Suche nach den Verworfenen, nach denen, die ohne Hoffnung sind. Wie jener gelähmte Mann, der seit achtunddreißig Jahren am Teich von Betesda liegt und vergeblich darauf wartet, dass ihm jemand hilft, ins Wasser zu steigen (vgl. Joh 5,1-9).
Dieses Mitleid erschien nicht erst zu einem bestimmten Punkt der Heilsgeschichte, nein, es war immer in Gott, eingeprägt in seinem Vaterherzen. Denken wir, zum Beispiel, an den Bericht über die Berufung des Mose, als Gott aus dem brennenden Dornbusch zu ihm spricht und sagt: »Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage [...] gehört: Ich kenne sein Leid« (Ex 3,7). Da sehen wir das Mitleid des Vaters!
Gottes Liebe zu seinem Volk ist so voller Mitleid, dass in dieser Bundesbeziehung die göttliche Seite mitleidend ist, während es auf der menschlichen Seite diesbezüglich weit fehlt. Gott selbst sagt: »Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, wie dich ausliefern, Israel? […] Gegen mich selbst wendet sich mein Herz, heftig entbrannt ist mein Mitleid. […] Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte. Darum komme ich nicht in der Hitze des Zorns« (Hos 11,8-9).
Die Jünger Jesu zeigen oft, dass sie ohne Mitleid sind, wie damals, als sie vor dem Problem standen, die vielen Menschen zu sättigen. Letztlich sagen sie: „Die sollen zusehen, wie sie zurechtkommen ...“ Das ist eine unter uns Menschen weit verbreitete Haltung, auch wenn wir religiöse Menschen oder sogar zum Gottesdienst bestimmt sind. Wir waschen unsere Hände in Unschuld. Das Amt, das wir bekleiden, reicht nicht aus, um uns mitfühlend zu machen, wie das Verhalten des Priesters und des Leviten zeigt, die vorübergingen, als sie einen Mann halbtot am Straßenrand liegen sahen (vgl. Lk 10,31-32). Sie werden sich wohl gedacht haben: „Das ist nicht mein Job.“ Es gibt immer irgendeinen Vorwand, irgendeine Ausrede, um wegzuschauen. Und wenn ein Mann der Kirche zum Funktionär wird, ist das ganz bitter. Es gibt immer Ausreden; manchmal werden diese sogar zum Gesetz und führen zu „institutionellen Aussonderungen“, wie im Falle der Aussätzigen: „Natürlich müssen die draußen bleiben, das ist richtig so.“ So dachte man, und so denkt man. Aus dieser sehr menschlichen, ja allzu menschlichen Haltung leiten sich auch Strukturen der Mitleidslosigkeit ab.
An dieser Stelle können wir uns fragen: Sind wir uns bewusst, wir als Erste, dass wir alle Gottes Mitleid empfangen haben? Ich wende mich insbesondere an euch, meine Brüder Kardinäle, und euch, die ihr gleich zu Kardinälen werdet: Ist dieses Bewusstsein in euch lebendig? Dass nämlich seine Barmherzigkeit euch immer schon vorausgegangen ist und begleitet hat? Dieses Bewusstsein prägte ständig das unbefleckte Herz der Jungfrau Maria, die Gott als „ihren Retter“ preist, der »auf die Niedrigkeit seiner Magd« geschaut hat« (Lk 1,48).
Mir tut es sehr gut, mich im Spiegel von Ezechiel 16, der Liebesgeschichte Gottes mit Jerusalem, zu betrachten, wo es zusammenfassend heißt: »Ich selbst richte meinen Bund mit dir auf, damit du erkennst, dass ich der Herr bin. So sollst du gedenken, sollst dich schämen und wirst vor Scham den Mund nicht mehr öffnen können, weil ich dir Versöhnung gewähre für alles, was du getan hast« (Ez 16,62-63). Oder im anderen Prophetenwort von Hosea: »Ich werde sie in die Wüste gehen lassen und ihr zu Herzen reden. […] Dort wird sie mir antworten wie in den Tagen ihrer Jugend, wie am Tag, als sie aus dem Land Ägypten heraufzog« (2,16-17). Wir können uns fragen: Fühle ich an mir Gottes Mitleid? Fühle ich an mir die Gewissheit, Kind Gottes zu sein, das sein Mitleid empfängt?
Ist in uns das Bewusstsein für dieses Mitleid Gottes für uns lebendig? Hier geht es nicht um etwas Optionales und auch nicht, würde ich sagen, um einen „evangelischen Rat“. Nein. Es handelt sich dabei um eine wesentliche Voraussetzung. Wenn ich nicht fühle, dass ich Gottes Mitleid empfangen habe, verstehe ich seine Liebe nicht. Das ist nicht etwas, das man erklären könnte. Entweder ich fühle es oder ich fühle es nicht. Und wenn ich es nicht fühle, wie kann ich es dann kommunizieren, bezeugen, weitergeben? Ja, vielmehr werde ich das nicht tun können. Konkret: Habe ich Mitleid mit diesem Bruder, diesem Bischof, diesem Priester? ... Oder bin ich immer destruktiv mit meinem Urteilen, mit meiner Gleichgültigkeit, mit meiner Haltung wegzuschauen, um in Wahrheit meine Hände in Unschuld zu waschen?
Von diesem lebendigen Bewusstsein hängt es für uns alle auch ab, ob man fähig ist, in seinem Dienst aufrichtig zu sein. Das gilt auch für euch, liebe Brüder Kardinäle. Das Wort „Mitleid“ kam mir genau in dem Moment in den Sinn, als ich den Brief vom 1. September an euch schrieb. Die Bereitschaft eines Kardinals, das eigene Blut hinzugeben – dafür steht die rote Farbe des Gewandes – ist dann gewiss, wenn sie in dem Bewusstsein, Mitleid empfangen zu haben, und in der Fähigkeit, Mitleid zu haben, begründet ist. Andernfalls kann man nicht aufrichtig sein. Viele unaufrichtige Verhaltensweisen von Kirchenleuten haben ihre Ursache im Mangel an diesem Gespür für das empfangene Mitleid und in der Gewohnheit wegzuschauen, in der Gewohnheit der Gleichgültigkeit.
Bitten wir heute, im Vertrauen auf die Fürsprache des Apostels Petrus, um die Gnade eines mitleidenden Herzens, damit wir Zeugen dessen sind, der uns geliebt hat und liebt, der uns mit Barmherzigkeit angesehen hat, der uns erwählt, geweiht und gesandt hat, um allen sein Evangelium der Erlösung zu bringen.
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