APOSTOLISCHE REISE VON PAPST FRANZISKUS NACH UNGARN
(28. - 30. April 2023)
PREDIGT VON PAPST FRANZISKUS
Lajos-Kossuth-Platz (Budapest)
Sonntag, 30. April 2023
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Die letzten Worte, die Jesus im eben gehörten Evangelium spricht, fassen die Bedeutung seiner Sendung zusammen: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10,10). Das ist es, was ein guter Hirte tut: Er gibt sein Leben hin für seine Schafe. So ist Jesus wie ein Hirte auf der Suche nach seiner Herde gekommen, um uns zu suchen, da wir verloren waren; wie ein Hirte ist er gekommen, um uns dem Tod zu entreißen; wie ein Hirte, der jedes einzelne seiner Schafe kennt und sie mit unendlicher Zärtlichkeit liebt, führte er uns in den Schafstall des Vaters und machte uns zu seinen Kindern.
Betrachten wir also das Bild des Guten Hirten und verweilen wir bei zwei Dingen, die er nach den Worten des Evangeliums für seine Schafe tut: Zuerst ruft er sie, dann führt er sie hinaus.
1. Zunächst einmal ruft er seine Schafe (vgl. V. 3). Am Anfang unserer Heilsgeschichte stehen nicht wir mit unseren Verdiensten, unseren Fähigkeiten, unseren Strukturen; am Anfang steht Gottes Ruf, sein Wunsch, uns zu erreichen, seine Sorge um jeden einzelnen von uns, die Fülle seiner Barmherzigkeit, die uns von Sünde und Tod erlösen will, um uns Leben in Fülle und unendliche Freude zu schenken. Jesus ist als der gute Hirte der Menschheit gekommen, um uns zu rufen und wieder nach Hause zu führen. So können wir uns dankbar an seine Liebe zu uns erinnern, zu uns, die wir fern von ihm waren. Ja, während wir alle verirrt waren wie Schafe und jeder für sich seinen Weg ging (vgl. Jes 53,6), nahm er unsere Bosheit und unsere Schuld auf sich und brachte uns zurück ins Herz des Vaters. So haben wir es vom Apostel Petrus in der zweiten Lesung gehört: »Ihr hattet euch verirrt wie Schafe, jetzt aber habt ihr euch hingewandt zum Hirten und Hüter eurer Seelen« (1 Petr 2,25). Und auch heute noch ruft er uns in jeder Lebenssituation, bei allem, was wir in unseren Herzen tragen, in unseren Verwirrungen, in unseren Ängsten, im Gefühl der Niederlage, das uns manchmal überkommt, im Gefängnis der Traurigkeit, das uns gefangen zu halten droht. Er kommt als der Gute Hirte und ruft uns beim Namen, um uns zu sagen, wie wertvoll wir in seinen Augen sind, um unsere Wunden zu heilen und unsere Schwächen auf sich zu nehmen, um uns in Einheit in seinem Schafstall zu sammeln und uns mit dem Vater und miteinander vertraut zu machen.
Brüder und Schwestern, wo wir heute Morgen hier sind, spüren wir die Freude, Gottes heiliges Volk zu sein: Wir alle haben unseren Ursprung in seinem Ruf; er ist es, der uns zusammengerufen hat, und deshalb sind wir sein Volk, seine Herde, seine Kirche. Er hat uns hier versammelt, damit die Größe seiner Liebe uns alle in einer einzigen Umarmung zusammenführt, auch wenn wir uns voneinander unterscheiden und zu verschiedenen Gemeinschaften gehören. Es ist schön, dass wir hier zusammen sind: die Bischöfe und die Priester, die Ordensleute und die Laien. Und es ist schön, diese Freude zu teilen: mit den ökumenischen Delegationen, den Leitern der jüdischen Gemeinschaft, den Vertretern der zivilen Institutionen und dem diplomatischen Korps. Das ist Katholizität: Wir alle, die wir vom Guten Hirten beim Namen gerufen wurden, sind dazu berufen, seine Liebe anzunehmen und weiterzugeben und dafür zu sorgen, dass in seinem Stall alle einen Platz haben und niemand außen vor bleibt. Und deshalb sind wir alle aufgerufen, Beziehungen der Geschwisterlichkeit und der Zusammenarbeit zu pflegen, ohne uns zu entzweien, ohne unsere Gemeinschaft als geschlossene Gesellschaft zu betrachten, ohne uns von der Sorge leiten zu lassen, den je eigenen Raum zu verteidigen, sondern uns der gegenseitigen Liebe zu öffnen.
2. Nachdem der Hirte die Schafe gerufen hat, führt er sie hinaus (vgl. Joh 10,3). Zuerst hat er sie gerufen und in den Stall gebracht, jetzt treibt er sie hinaus. Zuerst werden wir in Gottes Familie zusammengerufen, so dass wir zu seinem Volk werden, dann jedoch werden wir in die Welt gesandt, damit wir mutig und ohne Angst zu Verkündigern der Guten Nachricht werden, zu Zeugen der Liebe, die uns erneuert hat. Diese Bewegung – das Ein- und Ausgehen – können wir anhand eines anderen Bildes begreifen, das Jesus verwendet: das der Tür. Er sagt: »Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden« (V. 9). Lassen wir uns das noch einmal klar gesagt sein: Er wird ein- und ausgehen. Einerseits ist Jesus die Tür, die sich weit aufgetan hat, um uns in die Gemeinschaft des Vaters eintreten und seine Barmherzigkeit erfahren zu lassen; aber wie jeder weiß, ist eine offene Tür nicht nur zum Eintreten da, sondern auch dazu, den Ort zu verlassen, an dem man sich befindet. Und so ist Jesus, der uns in die Umarmung Gottes und in den Schafstall der Kirche zurückgeführt hat, die Tür, die uns in die Welt hinausgehen lässt: Er drängt uns, unseren Brüdern und Schwestern entgegenzugehen. Und denken wir immer daran: Wir alle, keiner ausgeschlossen, sind dazu aufgerufen, unsere Komfortzone zu verlassen und den Mut zu haben, uns zu allen Randgebieten zu begeben, die das Licht des Evangeliums brauchen (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 20).
Brüder und Schwestern, „ausgehen“ bedeutet für jeden von uns, so zu werden wie Jesus, eine offene Tür. Es ist traurig und tut weh, verschlossene Türen zu sehen: die verschlossenen Türen unseres Egoismus gegenüber denen, die jeden Tag neben uns hergehen; die verschlossenen Türen unseres Individualismus in einer Gesellschaft, die in Einsamkeit zu verkümmern droht; die verschlossenen Türen unserer Gleichgültigkeit gegenüber denen, die in Leid und in Armut leben; die verschlossenen Türen gegenüber den Fremden, den Anderen, den Migranten, den Armen. Und sogar die verschlossenen Türen unserer kirchlichen Gemeinschaften: Verschlossen gegenüber den jeweils anderen Gemeinschaften, verschlossen gegenüber der Welt, verschlossen gegenüber denen, die „aus der Reihe tanzen“, verschlossen gegenüber denen, die sich nach der Vergebung Gottes sehnen. Brüder und Schwestern, bitte, bitte: Öffnen wir die Türen! Versuchen auch wir, wie Jesus zu sein – in unseren Worten, Gesten und täglichen Aktivitäten: eine offene Tür, eine Tür, die niemandem vor der Nase zugeschlagen wird, eine Tür, durch die jeder eintreten und die Schönheit der Liebe und Vergebung des Herrn erfahren kann.
Ich sage das vor allem immer wieder mir selbst, meinen Brüdern, den Bischöfen und Priestern: uns Hirten. Denn der Hirte, so sagt Jesus, ist weder ein Räuber noch ein Dieb (vgl. Joh 10,8); das heißt, er nutzt seine Rolle nicht aus, er unterdrückt die ihm anvertraute Herde nicht, er „raubt“ seinen Brüdern und Schwestern, die Laien sind, nicht ihren Bereich, er übt kein rigides Regiment. Brüder, ermutigen wir einander, immer offenere Türen zu sein: „Förderer“ der Gnade Gottes, Experten in Sachen Nähe, bereit, unser Leben hinzugeben, so wie Jesus Christus, unser Herr und unser Ein und Alles, es uns mit offenen Armen von der Kathedra des Kreuzes her lehrt und wie er es uns jedes Mal auf dem Altar zeigt, als das lebendige Brot, das für uns gebrochen wurde. Ich sage dies auch unseren Brüdern und Schwestern, die Laien sind, den Katecheten, den pastoralen Mitarbeitern, denjenigen mit politischer und sozialer Verantwortung, denjenigen, die einfach nur ihrem täglichen Leben nachgehen, manchmal unter Schwierigkeiten: Seid offene Türen! Lassen wir den Herrn des Lebens in unsere Herzen eintreten, sein Wort, das tröstet und heilt, um dann hinauszugehen und selbst offene Türen in der Gesellschaft zu sein. Füreinander offen und integrierend sein, um Ungarn zu helfen, in der Geschwisterlichkeit zu wachsen, die der Weg des Friedens ist.
Meine Lieben, Jesus, der Gute Hirte, ruft uns beim Namen und sorgt mit unendlicher Zärtlichkeit für uns. Er ist die Tür und wer durch ihn eintritt, hat das ewige Leben: Er ist also unsere Zukunft, eine Zukunft des Lebens in Fülle (vgl. Joh 10,10). Lassen wir uns daher niemals entmutigen, lassen wir uns niemals die Freude und den Frieden rauben, die er uns geschenkt hat, verschließen wir uns nicht in unseren Problemen oder unserer Teilnahmslosigkeit. Lassen wir uns von unserem Hirten begleiten: Mit ihm mögen unser Leben, unsere Familien, unsere christlichen Gemeinschaften und ganz Ungarn in neuem Glanz erstrahlen!
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