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BRIEF VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE PRIESTER DER DIÖZESE ROM
 

 

Liebe Brüder!

Ich hatte vor, in dieser Osterzeit mit euch zusammenzutreffen und gemeinsam die Chrisam-Messe zu feiern. Da aber eine Feier auf Diözesanebene nicht möglich ist, schreibe ich euch diesen Brief.

Die neue Phase, die wir beginnen, erfordert von uns Klugheit, Weitblick und einen gemeinsamen Einsatz, damit all die bisherigen Anstrengungen und Opfer nicht umsonst waren. In dieser Zeit der Pandemie haben viele von euch über Email oder Telefon mit mir darüber gesprochen, was diese unvorhergesehene und beunruhigende Situation bedeutete.

Obwohl es nicht möglich war, hinauszugehen oder direkten Kontakt zu haben, habt ihr mir so ermöglicht, »aus erster Hand« zu erfahren, was ihr erlebt. Dieser Austausch hat mein Gebet genährt, in vielen Fällen, um für das mutige und großherzige Zeugnis zu danken, das ich von euch empfangen habe; in anderen Fällen waren es Bitte und Fürsprache im Vertrauen auf den Herrn, der immer seine Hand ausstreckt (vgl. Mt 14,31). Obwohl es notwendig war, die soziale Distanzierung einzuhalten, hat dies nicht verhindert, dass sich das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Gemeinschaft und der Mission verstärkte, was uns geholfen hat, dafür zu sorgen, dass die Liebe, vor allem gegenüber den am meisten benachteiligten Menschen und Gemeinschaften, nicht unter Quarantäne gestellt wurde. In diesen aufrichtigen Gesprächen konnte ich feststellen, dass die notwendige Distanz nicht gleichbedeutend war mit Rückzug auf sich selbst oder Abkapselung, die die Mission betäubt, einschläfert und auslöscht. Ermutigt von diesem Austausch schreibe ich euch, weil ich euch näher sein möchte, um euren Weg zu begleiten, zu teilen und zu stärken.

Die Hoffnung hängt auch von uns ab und erfordert, dass wir einander helfen, damit sie lebendig und aktiv bleibt, jene ansteckende Hoffnung, die in der Begegnung mit den anderen gepflegt und gestärkt wird und die uns als Geschenk und Aufgabe gegeben ist, um die neue »Normalität« aufzubauen, nach der wir uns so sehr sehnen. Ich schreibe euch mit dem Blick auf die erste Gemeinschaft der Apostel, die ebenfalls Momente des Eingeschlossenseins, der Isolierung, der Angst und Unsicherheit durchgemacht hat. Fünfzig Tage vergingen zwischen Unbeweglichkeit und Abkapselung und der beginnenden Verkündigung, die ihr Leben für immer verändern sollte. Während die Türen des Ortes, wo sie sich befanden, aus Angst verschlossen waren, wurden die Jünger von Jesus überrascht, der »in ihre Mitte trat und zu ihnen sagte: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist!« (Joh 20,19-22). Lassen auch wir uns überraschen!

»Als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren« (Joh 20,19).

Heute wie gestern spüren wir: »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände« (Gaudium et spes, 1). Wie gut kennen wir dies alles! Alle haben wir die Zahlen und Quoten gehört, die uns tagtäglich bedrängten. Wir haben den Schmerz der Menschen mit Händen greifen können. Was uns erreichte, waren keine weit entfernten Daten: Die Statistiken trugen Namen, Gesichter, gemeinsam erlebte Begebenheiten. Als priesterliche Gemeinschaft waren wir dieser Wirklichkeit nicht fremd und haben sie nicht vom Fenster aus beobachtet. Vom Sturm, der wütete, durchnässt, wart ihr erfinderisch, um bei euren Gemeinden zu sein und sie zu begleiten: Ihr habt den Wolf kommen sehen und seid weder geflohen noch habt ihr die Herde im Stich gelassen (vgl. Joh 10,12-13).

Wir haben den plötzlichen Verlust von Familienangehörigen, Nachbarn, Freunden, Gemeindemitgliedern, Beichtvätern, Orientierungspunkten unseres Glaubens, erlitten. Wir haben die untröstlichen Gesichter derjenigen gesehen, die ihren Angehörigen in den letzten Stunden nicht nahe sein durften und sich nicht von ihnen verabschieden konnten. Wir haben das Leid und die Ohnmacht des Krankenhauspersonals gesehen, Ärzte und Pflegekräfte, die sich in nicht enden wollenden Arbeitstagen aufrieben, um die zahllosen Hilferufe zu beantworten. Alle haben wir die Unsicherheit und Angst der Erwerbstätigen und freiwilligen Helfer gespürt, die sich Tag für Tag dem Risiko aussetzten, um die Grundversorgung zu sichern, und auch um sich derjenigen anzunehmen, die aufgrund ihrer Ausgrenzung und Schutzlosigkeit stärker unter den Folgen dieser Pandemie zu leiden hatten, und sie zu begleiten.

Wir haben die Schwierigkeiten und Nöte der sozialen Einschränkungen gesehen und von ihnen gehört: Einsamkeit und Isolierung vor allem der alten Menschen; Sorge, Angst und das Gefühl der Schutzlosigkeit gegenüber der Unsicherheit in Bezug auf Arbeit und Wohnung; Gewalt und Zermürbung in den Beziehungen. Die uralte Angst vor der Ansteckung hat wieder zugeschlagen. Wir haben auch die beklemmenden Sorgen ganzer Familien geteilt, die nicht wissen, was in der nächsten Woche auf den Tisch kommen soll. Wir haben unsere eigene Verwundbarkeit und Ohnmacht erlebt. Wie der Brennofen die Gefäße des Töpfers prüft, so sind wir auf die Probe gestellt worden (vgl. Sir27,5). Verwirrt von allem, was geschah, haben wir verstärkt die Unsicherheit unseres Lebens und des apostolischen Einsatzes gespürt. Die Unvorhersehbarkeit der Situation hat unsere Unfähigkeit ans Licht gebracht, mit Unbekanntem zu leben und uns damit auseinanderzusetzen, mit dem, was wir nicht beherrschen oder kontrollieren können, und wie alle anderen haben wir uns verwirrt, verängstigt, schutzlos gefühlt. Wir erleben auch jene gesunde und notwendige Wut, die uns drängt, angesichts der Ungerechtigkeiten nicht mutlos die Hände sinken zu lassen, und die uns daran erinnert, dass wir für das Leben erträumt wurden.

Wie Nikodemus bei Nacht überrascht, weil »der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht«, haben wir uns gefragt: »Wie kann das geschehen?« Und Jesus hat uns geantwortet: »Du bist der Lehrer Israels und verstehst das nicht?« (vgl. Joh3,8-10). Die Komplexität dessen, was zu bewältigen war, erlaubte keine fertigen Rezepte oder Antworten aus dem Handbuch. Es erforderte weit mehr als oberflächliche Ermahnungen oder erbauliche Reden, die nicht in der Lage sind, all das, was das konkrete Leben von uns verlangte, gewissenhaft aufzunehmen und darin verwurzelt zu sein. Das Leid unserer Gläubigen tat uns weh, ihre Unsicherheiten machten uns betroffen, unsere geteilte Schwäche nahm uns jegliche falsche idealistische oder spiritualistische Selbstgefälligkeit wie auch jede Möglichkeit einer puritanischen Flucht. Niemand steht außerhalb von dem, was geschieht. Wir können sagen, dass wir gemeinsam die Stunde des weinenden Herrn erlebt haben: Wir haben vor dem Grab des Freundes Lazarus geweint (vgl. Joh 11,35), vor der Verschlossenheit seines Volkes (vgl. Lk 13,14; 19,41), in der dunklen Nacht von Getsemani (vgl. Mk 14,32-42; Lk 22,44).

Es ist auch die Stunde des weinenden Jüngers vor dem Geheimnis des Kreuzes und des Bösen, das so viele Unschuldige trifft. Es ist das bittere Weinen des Petrus nach der Verleugnung (vgl. Lk 22,62), das Weinen der Maria Magdalena vor dem Grab (vgl. Joh 20,11). Wir wissen, dass es unter solchen Umständen nicht leicht ist, den richtigen Weg zu finden, und es wird auch nicht an Stimmen fehlen, die all das aufzählen werden, was man angesichts dieser unbekannten Wirklichkeit hätte tun können. Unsere gewöhnliche Art und Weise, Beziehungen zu pflegen, zu organisieren, Liturgie zu feiern, zu beten, einzuladen und sogar Konflikte zu bewältigen, sind von einer unsichtbaren Präsenz verändert und in Frage gestellt worden, die unseren Alltag in Widrigkeiten verwandelt hat. Es handelt sich weder bloß um eine individuelle oder familiäre Angelegenheit noch um die einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe oder eines Landes. Die Merkmale des Virus bringen die Logik zum Verschwinden, nach der wir gewöhnlich die Realität aufgeteilt oder klassifiziert haben. Die Pandemie kennt keine Adjektive, Grenzen und niemand darf meinen, allein zurechtzukommen. Wir sind alle betroffen und beteiligt.

Das Narrativ einer Gesellschaft der Vorsorge, einer unerschütterlichen und stets zu unbegrenztem Konsum bereiten Gesellschaft ist in Frage gestellt worden und hat das Fehlen einer kulturellen und spirituellen Immunität gegenüber Konflikten offenbart. Eine Reihe alter und neuer Fragen und Probleme (die in vielen Gegenden der Welt als veraltet und überwunden betrachtet wurden) haben den Horizont und die Aufmerksamkeit besetzt. Fragen, die durch die bloße Wiedereröffnung der verschiedenen Aktivitäten keine Antwort finden werden. Vielmehr wird es unerlässlich sein, ein Zuhören zu entwickeln, das aufmerksam, aber voller Hoffnung, gelassen, aber hartnäckig, konstant, aber nicht ängstlich ist, und das die Wege bahnen und bereiten kann, die der Herr uns zu gehen aufruft (vgl. Mk 1,2-3). Wir wissen, dass man aus Leid und schmerzhaften Erfahrungen nicht unverändert hervorgeht. Wir müssen wachsam und aufmerksam sein. Der Herr selbst hat in seiner entscheidenden Stunde dafür gebetet: »Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst« (Joh 17,15).

Persönlich und gemeinschaftlich gefährdet und getroffen in unserer Verwundbarkeit und Schwäche sowie in unseren Grenzen, ist die Gefahr groß, dass wir uns zurückziehen und weiter über die Trostlosigkeit nachgrübeln, die die Pandemie uns vor Augen stellt, oder dass wir uns auf einen grenzenlosen Optimismus versteifen, der unfähig ist, die reale Dimension der Ereignisse zu akzeptieren (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 226-228). Die Stunden der Prüfung rufen unsere Unterscheidungsgabe auf den Plan, um zu entdecken, welche Versuchungen uns in einer Atmosphäre der Bestürzung und Verwirrung gefangen zu halten drohen, um dann in die schlechte Angewohnheit einer Vorgehensweise zu verfallen, die unsere Gemeinschaften daran hindern wird, das neue Leben zu fördern, das der auferstandenen Herr uns schenken will.

Es gibt verschieden Versuchungen, die charakteristisch sind für diese Zeit und die uns blind machen können, indem wir bestimmte Empfindungen und Haltungen pflegen, die es der Hoffnung nicht erlauben, unsere Kreativität, unsere Phantasie und unsere Fähigkeit zu einer Antwort zu stimulieren. Das reicht von der Tatsache, ehrlich die gravierende Situation annehmen zu wollen, allerdings mit dem Versuch, sie lediglich mit Ersatzaktivitäten oder Notbehelfen zu lösen, während man wartet, dass alles zur »Normalität« zurückkehrt, und die tiefen Wunden und die Zahl der in der Zwischenzeit Verstorbenen ignoriert. Bis hin zum Eingetaucht-Bleiben in eine gewisse lähmende Nostalgie nach der jüngsten Vergangenheit, die uns sagen lässt, dass »nichts sein wird wie zuvor«, und die uns unfähig macht, die anderen zum Träumen aufzufordern, zum Entwerfen neuer Wege und neuer Lebensstile.

»Jesus trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch!« (Joh 20,19-21).

Der Herr hat keine ideale Situation gewählt oder gesucht, um sich im Leben seiner Jünger Bahn zu brechen. Sicher hätten wir es vorgezogen, wenn all das, was passiert ist, nicht geschehen wäre. Aber es ist passiert. Und wie die Emmausjünger können auch wir weiter traurig auf dem Weg murren (vgl. Lk 24,13-21). Als der Herr bei verschlossenen Türen in das Obergemach trat, mitten in Isolierung, Angst und Unsicherheit, in der sie lebten, war er in der Lage, jede Logik zu verwandeln und der Geschichte und den Ereignissen eine neue Bedeutung zu verleihen. Jede Zeit ist geeignet, Frieden zu verkünden, keine Situation ist seiner Gnade beraubt. Seine Gegenwart inmitten des Eingeschlossen-Seins  und der erzwungenen Abwesenheit kündet für die Jünger von damals wie für uns heute einen neuen Tag an, der Bewegungslosigkeit und Resignation in Frage zu stellen und im Dienst an der Gemeinschaft alle Gaben zu mobilisieren vermag. Durch seine Gegenwart ist das Eingeschlossen-Sein fruchtbar geworden und hat der neuen Gemeinschaft der Apostel Leben geschenkt. Sagen wir es mit Vertrauen und ohne Angst: »Wo jedoch die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden« (Röm 5,20).

Haben wir keine Angst vor den komplexen Szenarien, die wir bewohnen, weil der Herr dort mitten unter uns ist! Gott hat immer das Wunder vollbracht, gute Früchte hervorzubringen (vgl. Joh 15,5). Die christliche Freude entspringt genau dieser Gewissheit. Mitten in den Widersprüchen und dem Unbegreiflichen, dem wir uns jeden Tag stellen müssen, überflutet und sogar betäubt von so vielen Worten und Zusammenhängen, verbirgt sich die Stimme des Auferstandenen, der zu uns sagt: »Friede sei mit euch!« Es ist tröstlich, das Evangelium zur Hand zu nehmen und Jesus zu betrachten, wie er mitten unter seinem Volk ist, während er das Leben und die Menschen, so wie sie sind, annimmt und umarmt. Seine Gesten verkörpern den schönen Lobgesang Marias: »Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen« (Lk 1,51-52). Er selbst hat seine Hände und seine verwundete Seite als Weg zur Auferstehung angeboten. Weder verbirgt noch verhüllt er seine Wunden, ja vielmehr lädt er Thomas ein, mit Händen zu greifen, dass eine Seitenwunde Quelle des Lebens in Fülle sein kann (vgl. Joh 20,27-29).

Wiederholt durfte ich als geistlicher Begleiter Zeuge folgender Tatsache sein: »Der Mensch, der die Dinge sieht, wie sie wirklich sind, der sich vom Schmerz durchdringen lässt und in seinem Herzen weint, ist fähig, die Tiefen des Lebens zu berühren und wahrhaft glücklich zu sein. Dieser Mensch wird getröstet, aber mit dem Trost Jesu und nicht mit dem der Welt. So kann er sich trauen, fremdes Leid zu teilen, und hört auf, vor den schmerzvollen Situationen zu fliehen. Auf diese Weise findet er, dass das Leben Sinn hat, wenn man dem anderen in seinem Schmerz beisteht, wenn man die fremde Angst versteht, wenn man den anderen Erleichterung verschafft. Dieser Mensch spürt, dass der andere Fleisch von seinem Fleisch ist; er fürchtet sich nicht davor, sich zu nähern und sogar seine Wunde zu berühren; er hat solches Mitleid, das ihn erfahren lässt, dass alle Distanz verschwindet. So kann man die Ermahnung des heiligen Paulus annehmen: ›Weint mit den Weinenden!‹ (Röm 12,15). Mit den anderen zu trauern wissen, das ist Heiligkeit« (Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 76)

»Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist!« (Joh 20,21-22).

Liebe Brüder, als Presbyterium sind wir aufgerufen, die Zukunft zu verkünden und zu prophezeien, wie der Wächter, der das Morgenrot ankündet, das einen neuen Tag bringt (vgl. Jes 21,11): Entweder wird es etwas Neues sein oder es wird mehr, sehr viel mehr und schlimmer sein als gewöhnlich. Die Auferstehung ist nicht nur ein historisches Ereignis der Vergangenheit, an das man sich erinnert und das man feiert. Sie ist mehr, sehr viel mehr: Sie ist die Ankündigung des Heils einer neuen Zeit, die bereits heute erklingt und sich Bahn bricht: »Schon sprießt es, merkt ihr es nicht?« (Jes 43,19). Es ist das »An-Kommende«, zu dessen Aufbau der Herr uns aufruft. Der Glaube befähigt uns zu einer realistischen und kreativen Vorstellungskraft, die in der Lage ist, die Logik der Wiederholung, des Ersatzes oder der Bewahrung beiseite zu lassen, und die uns einlädt, eine immer neue Zeit zu beginnen: die Zeit des Herrn. Wenn uns eine unsichtbare, lautlose, expansive und virale Präsenz in eine Krise gestürzt und erschüttert hat, dann wollen wir zulassen, dass uns diese andere diskrete, respektvolle und nicht invasive Gegenwart erneut ruft und uns lehrt, keine Angst zu haben, uns der Wirklichkeit zu stellen.

Wenn eine nicht fassbare Präsenz in der Lage war, die Prioritäten und eine scheinbar unverrückbare globale Agenda – die unsere Gemeinschaften und unsere Schwester Erde so sehr ersticken und verheeren – durcheinanderzubringen und auf den Kopf zu stellen, dann wollen wir keine Angst haben, dass die Gegenwart des Auferstandenen uns den Weg bahnt, neue Horizonte eröffnet und uns den Mut gibt, diesen historischen und einzigartigen Augenblick zu leben. Eine Handvoll furchtsamer Männer war in der Lage, eine neue Bewegung ins Leben zu rufen: die Verkündigung des lebendigen Gottes-mit-uns. Habt keine Angst! »Die Kraft des Zeugnisses der Heiligen liegt darin, die Seligpreisungen und den Maßstab des Jüngsten Gerichts zu leben« (Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 109). Lassen wir uns neu vom Auferstandenen überraschen.

Von seiner Seitenwunde her, Zeichen dafür, wie hart und ungerecht die Realität wird, möge er es sein, der uns drängt, der harten, schwierigen Realität unserer Brüder und Schwestern nicht den Rücken zu kehren. Er möge es sein, der uns lehrt, die Wunden unseres Volkes zu begleiten, zu heilen und zu verbinden, nicht ängstlich, sondern mutig und mit der wunderbaren Überfülle der Brotvermehrung aus dem Evangelium (vgl. Mt 14,15-21); mit dem Mut, der Fürsorge und der Verantwortung des Samariters (vgl. Lk 10,33-35); mit der Freude und dem Fest des Hirten für sein wiedergefundenes Schaf (vgl. Lk 15,4-6); mit der versöhnenden Umarmung des Vaters, der die Vergebung kennt (vgl. Lk 15,20); mit dem Mitleid, der Sanftmut und der Zärtlichkeit der Maria von Bethanien (vgl. Joh 12,1-3); mit der Sanftmut, Geduld und Klugheit der missionarischen Jünger des Herrn (vgl. Mt 10,16-23).

Mögen die verwundeten Hände des Auferstandenen unsere Traurigkeiten trösten, unsere Hoffnung neu wecken und uns drängen, jenseits unserer üblichen Zufluchtsorte das Reich Gottes zu suchen. Lassen wir uns auch überraschen von unserem gläubigen und einfachen Volk, dem so oft geprüften und aufgeriebenen, aber auch von der Barmherzigkeit des Herrn besuchten Volk. Möge dieses Volk uns lehren, unser Hirtenherz mit Sanftmut und Mitleid zu formen und zu stärken, mit Demut und mit der Großherzigkeit der aktiven, solidarischen, geduldigen und mutigen Widerstandsfähigkeit, die nicht gleichgültig bleibt, sondern jede Art von Skeptizismus und Fatalismus Lügen straft und entlarvt. Wie viel gibt es da zu lernen von der Kraft des gläubigen Gottesvolks, das immer einen Weg findet, um dem, der gefallen ist, zu helfen und ihn zu begleiten!

Die Auferstehung ist die Verkündigung, dass sich die Dinge ändern können. Lassen wir es zu, dass das Osterfest, das keine Grenzen kennt, uns auf kreative Weise zu den Orten führt, wo die Hoffnung und das Leben zu kämpfen haben, wo Leid und  Schmerz zu einem Korruption und Spekulation begünstigenden Raum werden, wo Aggressivität und Gewalt der letzte Ausweg zu sein scheinen. Als Priester, Söhne und Glieder eines priesterlichen Volkes kommt es uns zu, die Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen und sie als Brüder zu entwerfen. Legen wir unsere Verwundbarkeit, die Verwundbarkeit unseres Volkes und der ganzen Menschheit als heilige Opfergabe in die verwundeten Hände des Herrn.

Der Herr ist derjenige, der uns verwandelt, der sich unser bedient wie des Brotes, der unser Leben in seine Hände nimmt, uns segnet, uns bricht, uns austeilt und seinem Volk gibt. Lassen wir uns in aller Demut von den Worten des heiligen Paulus salben, damit sie sich wie wohlriechendes Öl in den unterschiedlichen Winkeln unserer Stadt verbreiten und so die verborgene Hoffnung wecken, die viele stillschweigend in ihrem Herzen tragen: »Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht; wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen; wir werden niedergestreckt und doch nicht vernichtet. Immer tragen wir das Todesleiden Jesu an unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib sichtbar wird« (2 Kor 4,8-10).

Nehmen wir mit Jesus an seiner Passion teil, unsere Passion, um mit ihm auch die Kraft der Auferstehung zu leben: Gewissheit der Liebe Gottes, die das Innerste zu bewegen und an die Wegkreuzungen hinauszugehen vermag, um »den Armen eine frohe Botschaft zu bringen, um den Gefangenen die Entlassung zu verkünden und den Blinden das Augenlicht, um die Zerschlagenen in Freiheit zu setzen und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen« (vgl. Lk4,18-19), in der Freude darüber, dass alle mit ihrer Würde als Kinder des lebendigen Gottes aktiv teilhaben können.

All dies, was ich in dieser Zeit der Pandemie gedacht und gespürt habe, möchte ich brüderlich mit euch teilen, damit es uns helfen möge auf dem Weg des Lobpreises an den Herrn und des Dienstes an den Brüdern und Schwestern. Ich hoffe, dass dies uns allen eine Hilfe sein möge, um »mehr zu lieben und mehr zu dienen«. Der Herr segne euch und die allerseligste Jungfrau behüte euch. Und bitte vergesst nicht, für mich zu beten.

Brüderlich

Franziskus

Rom, bei St. Johannes im Lateran, am 31. Mai 2020, Hochfest Pfingsten

 

 



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