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BOTSCHAFT VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE VINZENTINISCHE FAMILIE 
ZUR 400-JAHR FEIER DES VINZENTINISCHEN CHARISMAS

 

Liebe Brüder und Schwestern!

Aus Anlass der 400-Jahrfeier des Charismas, aus dem eure Familie hervorgegangen ist, möchte ich mich an euch wenden mit Worten des Dankes und der Ermutigung und um den Wert und die Aktualität des heiligen Vinzenz von Paul hervorzuheben. Er blieb in seinem Leben stets auf dem Weg, offen für die Suche nach Gott und sich selbst. Zu diesem ständigen Suchen kam der Dank hinzu: Als Hirte hatte er eine einschneidende Begegnung mit Jesus, dem Guten Hirten, in den Armen.

Das geschah in besonderer Weise, wenn er sich vom Blick eines sich nach Barmherzigkeit Sehnenden und von der Situation einer an allem Mangel leidenden Familie berühren ließ. In diesem Augenblick spürte er den Blick Jesu, der ihn verwandelte und einlud, nicht mehr für sich selbst zu leben, sondern ihm vorbehaltlos in den Armen zu dienen, die Vinzenz von Paul später »unsere Herren und unsere Meister« nannte (Korrespondenz, Unterweisungen, Dokumente, XI, 393). Und so wurde sein Leben bis zum letzten Atemzug zu einem beständigen Dienen. Ein Wort der Heiligen Schrift machte ihm den Sinn seiner Mission klar: »Der Herr hat mich gesandt, den Armen eine Frohe Botschaft zu bringen« (vgl. Lk 4,18).

Mit dem brennenden Wunsch, den Armen Kenntnis von Jesus zu bringen, widmete er sich intensiv der Verkündigung, vor allem durch die Volksmissionen, und ganz besonders, indem er sein Augenmerk auf die Ausbildung der Priester richtete. Er wandte ganz ungekünstelt eine »kleine Methode« an: zuerst durch sein eigenes Leben sprechen und dann mit großer Einfachheit, vertraulich und direkt. Der Heilige Geist machte aus ihm ein Werkzeug, das in der Kirche eine eifrige Großherzigkeit auslöste. Inspiriert von den ersten Christen, die »ein Herz und eine Seele waren« (Apg 4,32), hat der heilige Vinzenz die »Charités« (Bruderschaften der Nächstenliebe) gegründet, damit sie sich der Bedürftigsten annehmen, in Gemeinschaft leben und alle ihre Güter mit Freude zur Verfügung stellen sollten in der Überzeugung, dass Jesus und die Armen die kostbarsten Schätze sind und »du Jesus begegnest, wenn du zu einem Armen gehst«, wie er gerne zu sagen pflegte.

Dieses »kleine Senfkorn«, das 1617 ausgestreut wurde, hat die Kongregation der Mission und die Genossenschaft der Töchter der christlichen Liebe hervorgebracht und sich verzweigt in andere Institute und Vereinigungen; es ist zu einem großen Baum geworden (vgl. Mk 4,31-32): eure Familie. Aber alles hat mit diesem kleinen Senfkorn angefangen. Der heilige Vinzenz wollte nie Vorreiter oder Anführer sein, sondern ein »kleines Senfkorn«. Er war überzeugt, dass Demut, Sanftmut und Einfachheit Grundvoraussetzungen sind, um das Gesetz des Samens zu verkörpern, das sterbend Leben gibt (vgl. Joh 12,20-26), dieses Gesetz, das allein das christliche Leben fruchtbar macht, dieses Gesetz, durch das man schenkend empfängt, durch das man sich findet, indem man sich verliert, und durch das man ausstrahlt, indem man sich verbirgt. Und er war auch überzeugt, dass es nicht möglich ist, dies alles allein zu tun, sondern dass man es gemeinsam tun muss, als Kirche und als Volk Gottes. Ich möchte hier an seine prophetische Intuition erinnern, die bemerkenswerten fraulichen Qualitäten wertzuschätzen und zu nutzen, die im geistlichen Feingefühl und in der menschlichen Sensibilität der heiligen Luise von Marillac hervortraten.

»Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40), sagt der Herr. Im Herzen der vinzentinischen Familie steht die Suche nach »den Ärmsten und Verlassensten « sowie die tiefe Überzeugung, »nicht würdig zu sein, ihnen unsere kleinen Dienste zu erweisen« (Korrespondenz, Unterweisungen, Dokumente, XI, 393). Ich wünsche, dass dieses Jahr der Danksagung an den Herrn und der Vertiefung des Charismas eine Gelegenheit sei, den Durst an der Quelle zu stillen, sich am Brunnen des ursprünglichen Geistes zu erfrischen. Vergesst nicht, dass die Quellen der Gnade, aus denen ihr trinkt, aus in der Liebe fest verankerten und unerschütterlichen Herzen strömten: aus »berühmten Vorbildern sozialer Liebestätigkeit« (Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 40). Ihr werdet dieselbe Frische bringen, aber nur, wenn ihr den Blick zum Felsen emporrichtet, aus dem alles hervorströmte. Dieser Felsen ist der arme Jesus, der erkannt werden will in den Armen und denen, die keine Stimme haben.

Denn er, Jesus, ist dort. Wenn ihr schwachen, von schwieriger Vergangenheit gebrochenen Menschen begegnet, seid auch ihr berufen, Felsen zu sein: nicht um hart und unerbittlich zu scheinen und auch nicht um unempfindsam zu sein für die Leiden, sondern um sichere, feste Stützen zu werden angesichts der Stürme, unerschütterlich gegenüber den Widrigkeiten, weil ihr »auf den Felsen blickt, aus dem ihr gehauen seid, auf den Schacht, aus dem ihr herausgebohrt wurdet« (vgl. Jes 51,1). So seid ihr berufen, an die Randgebiete der menschlichen Existenz zu gehen, nicht um eure Fähigkeiten dorthin zu tragen, sondern um den Geist des Herrn, »des Vaters aller Armen«, zu bringen. Er sät euch überreich aus in der Welt wie Samenkörner, die aus harter Erde hervorbrechen, wie einen Balsam des Trostes für den Verwundeten, wie ein Feuer der Liebe, um so viele, von Verlassenheit kalt und von Ablehnung hart gewordene Herzen zu erwärmen.

Ja, wir alle sind gerufen, aus dem Felsen zu trinken, der der Herr ist, und den Durst der Welt mit der von ihm kommenden Liebe zu stillen. Die Liebe ist das Herz der Kirche, sie ist der Grund ihres Handelns, die Seele ihrer Mission. »Die Liebe ist der Hauptweg der Soziallehre der Kirche. Jede von dieser Lehre beschriebene Verantwortung und Verpflichtung geht aus der Liebe hervor, die nach den Worten Jesu die Zusammenfassung des ganzen Gesetzes ist« (Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in Veritate, 2). Das ist der Weg, dem man folgen muss, damit die Kirche immer mehr Mutter und Lehrmeisterin der Liebe werden kann – mit einer stets innigeren, überströmenden Liebe untereinander und zu allen Menschen (vgl. 1 Thess 3,12): Eintracht und Gemeinschaft innerhalb der Kirche, Offenheit und Entgegenkommen außerhalb, mit Mut, dem zu entsagen, was vorteilhaft sein kann, um in allem den Herrn nachzuahmen und so sich selbst ganz zu finden, indem man aus der scheinbaren Schwäche der Liebe den einzigen Grund für seinen Stolz macht (vgl. 2 Kor 12,9). In diesem Zusammenhang klingen die Worte des Konzils sehr aktuell: »Christus Jesus hat […] sich selbst  entäußert und Knechtsgestalt angenommen; um unseretwillen ist er arm geworden, obgleich er doch reich war. So ist die Kirche, auch wenn sie zur Erfüllung ihrer Sendung menschlicher Mittel bedarf, nicht gegründet, um irdische Herrlichkeit zu suchen, sondern um Demut und Selbstverleugnung auch durch ihr Beispiel auszubreiten.

Christus wurde vom Vater gesandt, den Armen frohe Botschaft zu bringen […] In ähnlicher Weise umgibt die Kirche alle mit ihrer Liebe, die von menschlicher Schwachheit angefochten sind, ja in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war. Sie müht sich, deren Not zu erleichtern und sucht Christus in ihnen zu dienen« (Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution  Lumen gentium, 8). Der heilige Vinzenz hat während seines langen Lebens dies alles verwirklicht, und daher spricht er noch immer zu jedem von uns und zu uns allen als Kirche. Sein Zeugnis lädt uns ein, immer auf dem Weg zu sein, bereit, uns vom Blick des Herrn und von seinem Wort überraschen zu lassen. Er fordert von uns die Armut des Herzens, eine totale Verfügbarkeit und eine gelehrige Demut.

Er drängt uns zur geschwisterlichen Gemeinschaft unter uns und zur mutigen Mission in der Welt. Er bittet uns, uns von komplizierter Sprechweise, von selbstherrlichen Diskussionen und von Anhänglichkeit an die materiellen Güter fernzuhalten, die momentan für uns eine Beruhigung sein können, die uns aber nicht Gottes Frieden schenken und oft sogar ein Hindernis für die Mission sind. Er ermahnt uns, in die Kreativität der Liebe zu investieren mit der Aufrichtigkeit eines »Herzens, das sieht« (vgl. Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 31). Die Nächstenliebe begnügt sich ja nicht mit guten Gewohnheiten aus früheren Zeiten, sondern weiß die Gegenwart zu verwandeln. Und das ist heute umso notwendiger in der sich ständig ändernden Komplexität unserer globalisierten Gesellschaft, wo die Gefahr besteht, dass manche Formen des Almosens und der Hilfeleistung, obschon gerechtfertigt durch großherzige Absichten, nicht wirkliche und nachhaltige Fortschritte erzielen, sondern Formen der Ausbeutung und der Illegalität unterstützen.

Der Nächstenliebe Gestalt geben, der Nähe zu den Menschen eine Struktur verleihen und das Investieren in die Bildung sind daher aktuelle Lehren, die vom heiligen Vinzenz kommen. Aber sein Beispiel ermutigt uns auch, den Armen, den neuen Formen der Armut unserer Zeit, den zu zahlreichen Armen von heute Raum und Zeit zu schenken und uns ihre Gedanken und ihre Schwierigkeiten zu eigen zu machen. Denn ein Christentum ohne Kontakt mit dem Leidenden wird zu einem »fleischlosen« Christentum, unfähig, das Fleisch Christi zu berühren. Den Armen begegnen, den Armen den Vorzug geben, den Armen eine Stimme geben, damit ihre Gegenwart durch die Kultur des Flüchtigen nicht zum Schweigen gebracht wird. Ich hoffe sehr, dass die Feier des Welttags der Armen am kommenden 19. November uns hilft in »unserer Berufung, dem armen Jesus zu folgen«, »immer besser und mehr konkrete Zeichen der Liebe zu werden für die Letzten und die Bedürftigsten«, und dass wir »uns der Wegwerfkultur und der Kultur des Überflusses entgegenstellen« (Botschaft zum 1.Welttag der Armen: Liebt nicht mit Worten sondern in Taten, 13. Juni 2017).

Ich erbitte für die Kirche und für euch die Gnade, im hungernden, dürstenden, fremden, seiner Kleider und seiner Würde beraubten, kranken, gefangenen Bruder oder auch im unentschlossenen, unwissenden, in der Sünde verhärteten, betrübten, verletzenden, mürrischen und lästigen Bruder Jesus, den Herrn, zu finden. Und in den glorreichen Wunden Jesu die Kraft der Liebe, das Glück des Samenkorns zu finden, das sterbend Leben schenkt, die Fruchtbarkeit des verwundeten Felsens, aus dem Wasser quillt, die Freude, aus sich heraus und in die Welt zu gehen, ohne der Vergangenheit nachzutrauern, sondern mit dem Vertrauen in Gott, kreativ angesichts der Herausforderungen von heute und morgen, »weil die Liebe unendlich erfinderisch ist«, wie der heilige Vinzenz sagte.

Aus dem Vatikan, am 27. September 2017 Gedenktag des heiligen Vinzenz von Paul

FRANZISKUS

 



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