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 PFINGSTVIGIL MIT DEN KIRCHLICHEN BEWEGUNGEN

ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS

Petersplatz
Samstag, 18. Mai 2013

1. Frage

»Die christliche Wahrheit ist anziehend und gewinnend, denn sie antwortet auf die tiefen Bedürfnisse des menschlichen Daseins, wenn sie auf überzeugende Weise verkündet, dass Christus der einzige Retter des ganzen Menschen und aller Menschen ist« (Ansprache an die Kardinäle, 15. März 2013). Heiliger Vater, diese Ihre Worte haben uns tief beeindruckt: Sie bringen auf direkte und radikale Weise die Erfahrung zum Ausdruck, die jeder von uns machen möchte, vor allem im Jahr des Glaubens und in dieser Pilgerfahrt, die uns heute Abend hierher geführt hat. Wir stehen vor Ihnen, um unseren Glauben zu erneuern, zu bekräftigen und zu stärken. Wir wissen, dass es den Glauben nicht ein für allemal gibt. Wie Benedikt XVI. im Apostolischen Schreiben Porta fidei sagte, ist der Glaube keine »selbstverständliche Voraussetzung«. Diese Aussage betrifft nicht nur die Welt, die anderen, die Tradition, aus der wir kommen: Diese Aussage betrifft vor allem einen jeden von uns. Allzu oft werden wir uns bewusst, dass der Glaube ein Keim des Neuen, ein Anfang einer Veränderung ist, dann aber kaum Auswirkungen auf das Ganze des Lebens hat, nicht zum Ursprung all unseres Erkennens und Handelns wird. Heiligkeit, wie haben Sie in Ihrem Leben die Glaubensgewissheit erreichen können? Und welchen Weg weisen Sie uns, damit jeder von uns die Glaubensschwäche überwinden kann?

2. Frage

Heiliger Vater, meine Lebenserfahrung ist eine alltägliche wie so viele. Ich versuche, den Glauben im Arbeitsumfeld im Kontakt mit den anderen als aufrichtiges Zeugnis des Guten zu leben, das ich in der Begegnung mit dem Herrn empfangen habe. Ich bin, wir sind »Gedanken Gottes«, ergriffen von einer geheimnisvollen Liebe, die uns das Leben gegeben hat. Ich unterrichte in einer Schule, und dieses Bewusstsein ist für mich der Grund, mich für meine Schüler und auch für die Kollegen zu begeistern. Oft stelle ich fest, dass viele das Glück auf zahlreichen individuellen Wegen suchen, auf denen das Leben und seine großen Fragen häufig auf den Materialismus dessen zusammenschrumpfen, der alles haben will und ewig unbefriedigt bleibt, oder auf den Nihilismus, für den nichts Sinn hat. Ich frage mich, wie das, was der Glaube bietet – das Angebot einer persönlichen Begegnung, einer Gemeinschaft, eines Volkes – das Herz des Menschen unserer Zeit erreichen kann. Wir sind für die Unendlichkeit geschaffen – »Setzt das Leben für große Ideale ein!«, haben Sie kürzlich gesagt (Predigt in der Eucharistiefeier mit Firmungen, 28. April 2013) –, und doch scheint alles um uns und unsere Jugendlichen zu sagen, dass man sich mit mittelmäßigen, unmittelbaren Antworten zufrieden geben muss und dass der Mensch sich an die Endlichkeit anpassen muss, ohne nach anderem zu suchen. Manchmal sind wir eingeschüchtert wie die Jünger am Vorabend von Pfingsten.

Die Kirche fordert uns zur Neuevangelisierung auf. Ich denke, dass wir alle, die wir hier sind, diese Herausforderung, die im Mittelpunkt unserer Erfahrungen liegt, stark empfinden. Darum möchte ich Sie, Heiliger Vater, bitten, dass Sie mir und uns allen helfen zu verstehen, wie wir dieser Herausforderung in unserer Zeit begegnen sollen. Was ist für Sie das Wichtigste, auf das wir alle – Bewegungen, Vereinigungen und Gemeinschaften – achten müssen, um die Aufgabe zu erfüllen, zu der wir berufen sind? Wie können wir heute auf wirksame Weise den Glauben vermitteln?

3. Frage

Heiliger Vater, innerlich bewegt habe ich die Worte gehört, die Sie in der Audienz mit den Journalisten nach Ihrer Wahl gesagt haben: »Ach, wie wünschte ich mir eine Kirche, die arm und für die Armen ist!« Viele von uns sind in Werken der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit tätig: Wir sind ein aktiver Teil jener verwurzelten Präsenz der Kirche dort, wo der Mensch leidet. Ich bin eine Angestellte, habe meine Familie und so, wie ich eben kann, engagiere ich mich persönlich, um den Armen nahe zu sein und ihnen zu helfen. Aber das reicht nicht, um mir ein ruhiges Gefühl zu verschaffen. Ich wünschte mir, mit Mutter Theresa sagen zu können: Alles ist für Christus. Die große Hilfe, diese Erfahrung zu machen, sind die Brüder und Schwestern meiner Gemeinschaft, die sich für den selben Zweck engagieren. Und in diesem Einsatz sind wir vom Glauben und vom Gebet getragen. Die Not ist groß. Daran haben Sie uns erinnert: »Wie viele Arme gibt es noch in der Welt! Und welchen Leiden sind diese Menschen ausgesetzt!« (Ansprache an das beim Heiligen Stuhl akkreditierte Diplomatische Korps, 22. März 2013). Und die Krise hat alles noch verschlimmert. Ich denke an die Armut, die so viele Länder quält und die sich auch in der Welt des Wohlstands gezeigt hat; an den Arbeitsmangel, an die massenweisen Migrationsbewegungen, an die neuen Formen der Sklaverei, an die Verwahrlosung und die Einsamkeit vieler Familien, vieler alter Menschen und so vieler, die keine Wohnung oder keine Arbeit haben. Ich möchte Sie fragen, Heiliger Vater: Wie kann ich, wie können wir alle eine Kirche leben, die arm und für die Armen ist? In welcher Weise stellt der leidende Mensch eine Anfrage an unseren Glauben dar? Welchen konkreten und wirksamen Beitrag können wir alle als Laien-Bewegungen und -Vereinigungen für die Kirche und die Gesellschaft leisten, um dieser schweren Krise zu begegnen, die die öffentliche Ethik, das Entwicklungsmodell, die Politik, kurz: ein neues Menschsein angeht?

4. Frage

Gehen, aufbauen, bekennen. Dieses Ihr »Programm« für eine Kirche als Bewegung – so habe ich es zumindest verstanden, als ich eine Ihrer Predigten zu Beginn des Pontifikats gehört habe – hat uns bestärkt und angespornt. Bestärkt, weil wir uns in tiefer Übereinstimmung mit den Freunden der Gemeinschaft der Christen und mit der gesamten Weltkirche gefunden haben. Angespornt, weil Sie uns in gewissem Sinn gezwungen haben, den Staub der Zeit und der Oberflächlichkeit von unserem Mitsein mit Christus wegzufegen. Doch muss ich zugeben, dass es mir nicht gelingt, die Unruhe zu überwinden, die eines dieser Worte in mir hervorruft: bekennen. Den Glauben bekennen, d.h. bezeugen. Wir denken an unsere vielen Brüder und Schwestern, die um des Glaubens willen leiden, wie wir auch vorhin gehört haben. An diejenigen, die sich am Sonntagmorgen entscheiden müssen, ob sie zur Messe gehen in dem Wissen, dass sie, wenn sie das tun, ihr Leben aufs Spiel setzen. An diejenigen, die sich in vielen, allzu vielen Teilen unserer Welt um des christlichen Glaubens willen umzingelt und diskriminiert fühlen. Angesichts dieser Situationen scheint es, dass mein Bekennen, unser Zeugnis schüchtern und unbeholfen ist. Wir möchte mehr tun, aber was? Und wie kann man diesen unseren Brüdern und Schwestern helfen? Wie ihr Leiden lindern, da man doch nichts oder sehr wenig tun kann, um ihr politisches und soziales Umfeld zu ändern?

Antworten des Heiligen Vaters

Guten Abend euch allen! Ich bin froh, euch zu begegnen und dass wir alle uns auf diesem Platz treffen, um zu beten, vereint zu sein und um die Gabe des Geistes zu erwarten. Ich kannte eure Fragen und habe darüber nachgedacht – es ist also nicht, dass ich in Unkenntnis war! Zuallererst die Wahrheit! Ich habe die Fragen hier, schriftlich.

Die erste – »Wie haben Sie in Ihrem Leben die Glaubensgewissheit erreichen können; und welchen Weg weisen Sie uns, damit jeder von uns die Glaubensschwäche überwinden kann?« – ist eine geschichtliche Frage, denn sie betrifft meine Geschichte, die Geschichte meines Lebens! Ich hatte die Gnade, in einer Familie aufzuwachsen, in der der Glaube auf einfache, konkrete Weise gelebt wurde; aber es war vor allem meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, die meinen Glaubensweg geprägt hat. Sie war eine Frau, die uns Jesus erklärte, uns von ihm erzählte, uns den Katechismus beibrachte. Ich erinnere mich immer noch, dass sie uns am Karfreitag abends zur Kerzenprozession mitnahm, und am Ende dieser Prozession kam der »liegende Christus«, und die Großmutter ließ uns – uns Kinder – niederknien und sagte zu uns: »Seht, er ist tot, aber morgen wird er auferstehen.« Ich habe die erste christliche Verkündigung ausgerechnet von dieser Frau empfangen, von meiner Großmutter! Das ist so schön! Die erste Verkündigung zu Hause, mit der Familie! Und das lässt mich an die Liebe so vieler Mütter und so vieler Großmütter in der Weitergabe des Glaubens denken. Sie sind es, die den Glauben weitergeben. Das geschah auch in den ersten Zeiten, denn der heilige Paulus sagte zu Timotheus: »Ich erinnere mich an den Glauben deiner Mutter und deiner Großmutter« (vgl. 2 Tim1,5). Alle Frauen, die hier sind, alle Großmütter, denkt daran: den Glauben weitergeben! Denn Gott stellt uns Menschen an die Seite, die unseren Glaubensweg fördern. Wir finden den Glauben nicht im Abstrakten, nein! Da ist immer ein Mensch, der predigt, der uns sagt, wer Jesus ist; der den Glauben an uns weitergibt, uns die erste Verkündigung bringt. Und so war die erste Glaubenserfahrung, die ich hatte. Aber da gibt es einen für mich ganz bedeutenden Tag: den 21. September 1953. Ich war beinahe 17 Jahre alt. Es war der »Tag des Schülers«, für uns der Frühlingsanfang – bei euch ist es Herbstanfang. Vor dem Fest bin ich noch in die Pfarrei gegangen, die ich frequentierte, habe einen Priester gefunden, den ich nicht kannte, und das Bedürfnis gespürt, zu beichten. Das war für mich die Erfahrung einer Begegnung: Ich habe entdeckt, dass jemand mich erwartete. Aber ich weiß nicht, was da geschehen ist, ich erinnere mich nicht; ich weiß wirklich nicht, warum jener Priester da war, den ich nicht kannte, warum ich jenen Wunsch zu beichten verspürte, aber die Wahrheit ist, dass jemand auf mich wartete. Seit langem auf mich wartete. Nach der Beichte habe ich gespürt, dass etwas sich geändert hatte. Ich war nicht mehr derselbe. Ich hatte etwas vernommen – wirklich wie eine Stimme, einen Ruf:

Ich war überzeugt, dass ich Priester werden sollte. Diese Erfahrung im Glauben ist wichtig. Wir sagen, dass wir Gott suchen müssen, zu ihm gehen und um Verzeihung bitten, aber wenn wir hingehen, wartet er schon auf uns, er ist vorher da! Im Spanischen haben wir ein Wort, das dies gut erklärt: »El Señor siempre nos primerea« – der Herr kommt uns immer zuvor, ist zuerst, erwartet uns! Und das ist wirklich eine große Gnade: einen zu finden, der dich erwartet. Du gehst hin als Sünder, er aber wartet, um dir zu vergeben. Das ist die Erfahrung, die die Propheten Israels beschrieben wenn sie sagten, der Herr sei wie die Mandelblüte, die erste Blüte des Frühlings (vgl. Jer 1,11–12). Bevor die anderen Blüten kommen, ist sie da – wartet auf uns. Der Herr erwartet uns. Und wenn wir ihn suchen, entdecken wir diese Wirklichkeit: dass er da ist und uns erwartet, um uns aufzunehmen, um uns seine Liebe zu schenken. Und das erfüllt Dein Herz mit einem solchen Staunen, dass du es nicht für möglich hältst – und so wächst der Glaube! Durch die Begegnung mit einer Person, durch die Begegnung mit dem Herrn. Da wird jemand einwenden: »Nein, ich ziehe es vor, den Glauben in den Büchern zu studieren! « Es ist wichtig, ihn zu studieren, aber siehst du, das allein genügt nicht! Das Wichtige ist die Begegnung mit Christus, die Begegnung mit ihm, und diese verhilft dir zum Glauben, denn es ist ja gerade Christus, der ihn dir schenkt! Auch ihr habt von der Glaubensschwäche gesprochen und was man tun kann, um sie zu überwinden. Der größte Feind, dem die Schwäche ausgesetzt ist – das ist komisch, nicht? –, ist die Angst. Doch habt keine Angst! Wir sind schwach, das wissen wir. Aber er ist stärker! Wenn du mit ihm gehst, gibt es kein Problem! Ein Kind ist sehr schwach – viele von ihnen habe ich heute gesehen – aber es war beim Papa, bei der Mama: Es ist in Sicherheit!

Mit dem Herrn sind wir sicher. Der Glaube wächst im Mitsein mit dem Herrn, gerade von der Hand des Herrn her; das lässt uns wachsen und macht uns stark. Wenn wir aber meinen, uns alleine arrangieren zu können… Denken wir daran, was Petrus passiert ist: »Herr, niemals werde ich dich verleugnen!« (vgl. Mt 26,33–35); und dann, als der Hahn krähte, hatte er es dreimal getan! (vgl. V. 69–75). Denken wir daran: Wenn wir zu viel Vertrauen in uns selber haben, sind wir schwächer… schwächer. Immer mit dem Herrn! Und »mit dem Herrn« bedeutet: mit der Eucharistie, mit der Bibel, mit dem Gebet… aber auch in der Familie, auch mit der Mutter, auch mit ihr, denn sie ist es, die uns zum Herrn bringt; sie ist die Mutter, diejenige, die alles weiß. Also auch zur Muttergottes beten und sie bitten, dass sie, als Mutter, mich stark macht. Das ist es, was ich in Bezug auf die Schwäche denke, es ist zumindest meine Erfahrung. Etwas, das mich alle Tage stärkt, ist, den Rosenkranz zu beten, zur Muttergottes. Ich empfinde eine so große Stärke, weil ich zu ihr gehe – und ich fühle mich stark.

Gehen wir zur zweiten Frage.

»Ich denke, dass wir alle, die wir hier sind, diese Herausforderung, die im Mittelpunkt unserer Erfahrungen liegt, stark empfinden. Darum möchte ich Sie, Heiliger Vater, bitten, dass Sie mir und uns allen helfen zu verstehen, wie wir dieser Herausforderung in unserer Zeit begegnen sollen. Was ist für Sie das Wichtigste, auf das wir alle – Bewegungen, Vereinigungen und Gemeinschaften – achten müssen, um die Aufgabe zu erfüllen, zu der wir berufen sind? Wie können wir heute auf wirksame Weise den Glauben vermitteln?«

Ich sage nur drei Worte. Das erste: Jesus. Wer ist am wichtigsten? Jesus. Wenn wir vorangehen mit der Organisation, mit anderen Dingen – auch schönen Dingen –, aber ohne Jesus, dann kommen wir nicht voran, das funktioniert nicht. Jesus ist wichtiger. Jetzt… möchte ich einen kleinen Vorwurf aussprechen, aber brüderlich, unter uns: Ihr alle habt auf dem Platz gerufen: »Franziskus, Franziskus, Papst Franziskus!«. Aber Jesus, wo war er? Ich hätte gewollt, dass ihr gerufen hättet: »Jesus, Jesus ist der Herr, und er ist wirklich mitten unter uns!« Von jetzt an nicht mehr: »Franziskus«, sondern: »Jesus«!

Das zweite Wort heißt: Gebet. Auf Gottes Angesicht schauen, aber vor allem – und das ist mit dem verbunden, was ich vorhin gesagt habe – sich angeschaut fühlen. Der Herr schaut uns an: er schaut zuerst auf uns. Meine Erfahrung ist das, was ich vor dem Tabernakel erfahre, wenn ich gehe, um am Abend vor dem Herrn zu beten. Manchmal nicke ich ein wenig ein, das ist wahr, denn die Müdigkeit des Tages lässt dich einschlummern. Aber er versteht mich. Und ich empfinde so viel Trost, wenn ich daran denke, dass er mich anschaut. Wir meinen, wir müssten beten, sprechen, sprechen, sprechen… Nein! Lass dich vom Herrn anschauen. Wenn er uns anschaut, gibt er uns Kraft. Und er hilft dir, ihn zu bezeugen – denn in der Frage ging es um das Glaubenszeugnis, nicht wahr? Zuerst: »Jesus« und dann: »Gebet« – wir spüren, dass Gott uns an der Hand hält! Das Wichtige dabei ist: sich von ihm führen lassen. Das ist wichtiger als alle Berechnungen. Wahre Glaubensboten sind wir, wenn wir uns von ihm führen lassen. Denken wir an Petrus. Vielleicht hielt er gerade seinen Mittagsschlaf, und da hatte er eine Vision – die Vision von dem Tischtuch mit all den Tieren darin – und er hörte, dass Jesus etwas zu ihm sagte, aber er begriff es nicht. In dem Moment kamen einige nicht jüdische Männer, die ihn baten, in ein Haus zu kommen, und er sah, dass der Heilige Geist auch dort war. Petrus hat sich von Jesus leiten lassen, um zu jener ersten Evangelisierung der Heiden zu gelangen, die eben keine Juden waren – etwas zu jener Zeit Unvorstellbares! (vgl. Apg 10,9–33). Und so die ganze Geschichte hindurch, die ganze Geschichte! Sich von Jesus leiten lassen. Er ist wirklich der Leader; unser Leader ist Jesus.

Und drittens: das Zeugnis. Jesus, Gebet – das Gebet, jenes Sich-von- ihm-führen-Lassen – und dann das Zeugnis. Aber ich möchte noch etwas hinzufügen. Dieses Sich-von-Jesus-führen-Lassen bringt dich zu den Überraschungen Jesu. Man kann meinen, dass wir die Evangelisierung am Schreibtisch planen müssen, indem wir über die Strategien nachdenken, Projekte erarbeiten. Aber das sind Mittel, kleine Mittel. Das Wichtige ist Jesus und sich von ihm führen zu lassen. Danach können wir die Strategien entwerfen, aber das ist zweitrangig.

Also das Zeugnis: Die Vermittlung des Glaubens kann man nur mit dem Zeugnis bewerkstelligen, und das ist die Liebe. Nicht mit unseren Ideen, sondern mit dem Evangelium, das wir in unserer persönlichen Existenz leben und das der Heilige Geist in uns leben lässt. Es ist gleichsam ein Zusammenspiel zwischen uns und dem Heiligen Geist, und das bewirkt das Zeugnis. Die Kirche wird vorangebracht durch die Heiligen, eben genau die, welche dieses Zeugnis geben. Wie Johannes Paul II. und auch Benedikt XVI. gesagt haben, bedarf die Welt von heute so dringend der Zeugen. Nicht so sehr der Lehrer, als vielmehr der Zeugen. Nicht so viel reden, sondern mit dem ganzen Leben sprechen: mit der Kohärenz des Lebens, gerade mit der Kohärenz des Lebens! Eine Kohärenz des Lebens, die bedeutet, das Christentum als eine Begegnung mit Jesus zu leben, der mich zu den anderen bringt, und nicht als ein gesellschaftliches Faktum. Gesellschaftlich… sind wir eben so, sind wir Christen, in uns verschlossen. Nein, das nicht! – Es ist das Zeugnis!

Die dritte Frage:

»Ich möchte Sie fragen, Heiliger Vater: Wie kann ich, wie können wir alle eine Kirche leben, die arm und für die Armen ist? In welcher Weise stellt der leidende Mensch eine Anfrage an unseren Glauben dar? Welchen konkreten und wirksamen Beitrag können wir alle als Laien-Bewegungen und -Vereinigungen für die Kirche und die Gesellschaft leisten, um dieser schweren Krise zu begegnen, die die öffentliche Ethik, das Entwicklungsmodell, die Politik, kurz: ein neues Menschsein angeht?«

Ich knüpfe an das Zeugnis an. Allem voran ist der Hauptbeitrag, den wir liefern können, das Evangelium zu leben. Die Kirche ist keine politische Bewegung, noch eine gut organisierte Struktur: Das ist es nicht. Wir sind keine NGO [Nichtregierungsorganisation], und wenn die Kirche eine NGO wird, verliert sie das Salz, hat keinen Geschmack mehr, ist nur noch eine leere Organisation. Und in dieser Sache müsst ihr schlau sein, denn der Teufel führt uns hinters Licht: Es besteht nämlich die Gefahr der Leistungsorientierung. Eines ist es, Jesus zu predigen, etwas anderes, Leistung zu erbringen, leistungsfähig zu sein. Nein, das ist ein anderer Wert. Der Wert der Kirche ist grundsätzlich, das Evangelium zu leben und Zeugnis für unseren Glauben zu geben. Die Kirche ist Salz der Erde, ist Licht der Welt, sie ist berufen, in der Gesellschaft den Sauerteig des Gottesreiches zu vergegenwärtigen, und das tut sie vor allem mit ihrem Zeugnis, dem Zeugnis der Bruderliebe, der Solidarität, des Teilens. Wenn man einige sagen hört, die Solidarität sei kein Wert, sondern ein »Primärverhalten«, das verschwinden muss… das ist nicht in Ordnung! Es wird an eine rein weltliche Wirksamkeit gedacht.

Die Momente der Krise, wie jene, die wir zur Zeit erleben – aber du hast vorhin gesagt, dass wir uns »in einer Welt der Lüge befinden« – dieser Moment der Krise – aufgepasst! – besteht nicht in einer nur wirtschaftlichen Krise, ist nicht nur eine kulturelle Krise. Es ist eine Krise des Menschen: Was sich in Krise befindet, ist der Mensch! Und was zerstört werden kann, ist der Mensch! Doch der Mensch ist Ebenbild Gottes! Aus diesem Grund ist es eine tiefe Krise! In diesem Moment der Krise dürfen wir uns nicht nur um uns selber kümmern, uns in der Einsamkeit verschließen, in der Entmutigung, im Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Problemen. Bitte sich nicht verschließen! Das ist eine Gefahr: Wir schließen uns ein in der Pfarrei, mit den Freunden, in der Bewegung, mit denen, die denken wie wir… aber wisst ihr, was dann passiert? Wenn die Kirche sich verschließt, wird sie krank – wird sie krank. Denkt an ein Zimmer, das ein Jahr lang geschlossen bleibt; wenn du eintrittst, ist da dieser Geruch nach Feuchtigkeit, all das, was nicht gut ist… Eine in sich verschlossene Kirche ist genauso: es ist eine kranke Kirche. Die Kirche muss aus sich herausgehen. Wohin? An die Peripherien des Seins, welche auch immer es sein mögen, aber hinausgehen. Jesus sagt uns: »Geht in alle Welt! Geht! Predigt! Gebt Zeugnis für das Evangelium! « (vgl. Mt 16,15). Doch was geschieht, wenn einer aus sich herausgeht? Da kann geschehen, was allen passieren kann, die das Haus verlassen und auf die Straße gehen: ein Unfall. Aber ich sage euch: Mir ist eine verunfallte Kirche, eine Kirche, die in einen Unfall geraten ist, tausendmal lieber als eine Kirche, die wegen ihrer Verschlossenheit krank ist! Geht hinaus, geht! Denkt auch an das, was die Geheime Offenbarung sagt. Sie sagt etwas Schönes: dass Jesus an der Tür steht und ruft, ruft, um in unser Herz einzutreten (vgl. Offb 3,20). Das ist die Bedeutung, die wir in der Geheimen Offenbarung finden.

Aber stellt euch einmal diese Frage: Wie oft ist Jesus drinnen und klopft an die Tür, um hinauszugehen – um hinauszugehen, und wir lassen ihn nicht, um unserer Sicherheiten willen? Denn oftmals sind wir eingeschlossen in vergängliche Strukturen, die nur dazu dienen, uns zu Sklaven zu machen und nicht zu freien Kindern Gottes! Bei diesem »Hinausgehen« ist wichtig, zur Begegnung zu gehen; dieses Wort ist mir sehr wichtig: die Begegnung mit den anderen. Warum? Weil der Glaube eine Begegnung mit Jesus ist, und wir müssen dasselbe tun wie Jesus: den anderen entgegengehen. Wir erleben eine Kultur der Auseinandersetzung, eine Kultur der Zersplitterung, eine Kultur, in der ich das, was mir nicht dient, wegwerfe – die Wegwerfkultur. Aber in diesem Zusammenhang bitte ich euch – und das ist ein Teil der Krise – an die alten Menschen zu denken, die die Weisheit eines Volkes verkörpern, und an die Kinder… Wegwerfkultur! … Wir aber müssen zur Begegnung kommen und mit unserem Glauben eine »Kultur der Begegnung « schaffen, eine Kultur der Freundschaft, eine Kultur, in der wir Brüder und Schwestern finden, wo wir auch mit denen sprechen können, die nicht so denken wie wir, auch mit denen, die einen anderen Glauben haben, die unseren Glauben nicht teilen. Alle haben etwas mit uns gemeinsam: Sie sind Ebenbilder Gottes, sind Kinder Gottes. Zur Begegnung mit allen kommen… ohne über unsere Zugehörigkeit zu verhandeln, und – das ist wichtig – mit den Armen. Wenn wir aus uns herausgehen, finden wir die Armut.

Heute – es tut im Herzen weh, das zu sagen – heute, wenn man einen Landstreicher auffindet, der erfroren ist, erregt das kein Aufsehen. Aufsehen erregend ist heute vielleicht ein Skandal. Ein Skandal – oh, der macht Schlagzeilen! Daran zu denken, dass so viele Kinder nichts zu essen haben – das erregt heute kein Aufsehen. Das ist schwerwiegend, das ist schlimm! Da können wir nicht ruhig bleiben: »Ja, das ist halt so…« Wir dürfen keine Christen »mit steifem Kragen« werden, jene allzu gebildeten Christen, die sich bei einer Tasse Tee in aller Ruhe über theologische Fragen austauschen. Nein! Wir müssen mutige Christen werden und uns zu denen aufmachen, die wirklich der Leib Christi sind, der Leib Christi! Wenn ich gehe, um Beichte zu hören – das kann ich noch nicht, denn zum Beichte-Hören hinausgehen… ja, hier kann man nicht heraus, aber das ist ein anderes Problem – wenn ich in der vorigen Diözese ging, um Beichte zu hören, kamen so einige, und ich stellte immer diese Frage: »Aber geben Sie auch Almosen?« – »Ja, Pater!« – »Ah, gut, gut.« Und dann schob ich noch zwei weitere nach: »Sagen Sie, wenn Sie Almosen geben, schauen Sie dann dem- oder derjenigen in die Augen, der Sie das Almosen geben?« – »Ach, das weiß ich nicht, darauf habe ich nicht geachtet.«

Zweite Frage: »Und wenn Sie das Almosen geben, berühren Sie dann die Hand dessen, dem Sie es geben, oder werfen Sie ihm die Münze hin?« Das ist das Problem: der Leib Christi, den Leib Christi berühren, diesen Schmerz auf uns nehmen, für die Armen. Die Armut ist für uns Christen nicht ein soziologische oder philosophische oder kulturelle Kategorie – nein, es ist eine theologale Kategorie. Ich würde sagen, vielleicht die erste Kategorie, denn jener Gott, der Sohn Gottes, hat sich erniedrigt, ist arm geworden, um mit uns den Weg zu gehen. Und das ist unsere Armut: die Armut des Leibes Christi, die Armut, die uns der Sohn Gottes mit seiner Menschwerdung gebracht hat. Eine arme Kirche für die Armen tut ihren ersten Schritt, indem sie auf den Leib Christi zugeht. Wenn wir auf den Leib Christi zugehen, beginnen wir etwas zu verstehen – zu verstehen, was diese Armut ist: die Armut des Herrn. Und das ist nicht einfach. Doch es gibt ein Problem, das den Christen nicht gut tut: der Geist der Welt, der weltlich orientierte Geist, die spirituelle Weltlichkeit. Das führt uns in eine Selbstgefälligkeit, nach dem Geist der Welt zu leben und nicht nach dem Geist Christi. Das berührt die Frage, die ihr gestellt habt: Wie muss man leben, um dieser Krise zu begegnen, die die öffentliche Ethik, das Entwicklungsmodell, die Politik angeht? Da dies eine Krise des Menschen ist, eine Krise, die den Menschen zerstört, ist es eine Krise, die dem Menschen die Ethik nimmt. Wenn es im öffentlichen Leben, in der Politik keine Ethik gibt, eine Ethik als Bezugspunkt, dann ist alles möglich und man kann alles tun. Und wir sehen, wenn wir die Zeitungen lesen, wie unheilvoll der Mangel an Ethik im öffentlichen Leben sich für die gesamte Menschheit auswirkt. Ich möchte euch eine Geschichte erzählen. Das habe ich in dieser Woche schon zweimal getan, doch mit euch will ich es ein drittes Mal tun.

Es ist die Geschichte, die ein biblischer Midrasch eines Rabbi aus dem 12. Jahrhundert erzählt. Er spricht von dem Turmbau zu Babel und sagt, dass man für den Bau des Turmes Ziegel anfertigen musste. Was bedeutet das? Sich aufmachen, den Lehm durchkneten, Stroh herbeischaffen, alles bereiten… und dann: in den Ofen. Und wenn der Ziegel fertig war, musste er hinaufgebracht werden für den Bau des Turmes von Babel. Ein Ziegel stellte einen Schatz dar aufgrund all der Arbeit, die zu seiner Herstellung nötig war. Wenn ein Ziegel zu Boden stürzte, war das eine nationale Tragödie, und der schuldige Arbeiter wurde bestraft; ein Ziegel war so wertvoll, dass es ein Drama war, wenn er herunterfiel. Wenn aber ein Arbeiter herunterfiel, geschah gar nichts, das war etwas anderes. Dasselbe geschieht heute: Wenn die Investitionen in den Banken ein wenig fallen… Tragödie!… Was tun? Doch wenn die Menschen verhungern, wenn sie nichts zu essen haben, wenn sie nicht gesund sind, das macht nichts! Das ist unsere Krise von heute! Und das Zeugnis einer armen Kirche für die Armen richtet sich gegen diese Mentalität.

Die vierte Frage:

»Angesichts dieser Situationen scheint es mir, dass mein Bekennen, mein Zeugnis schüchtern und unbeholfen ist. Ich möchte mehr tun, aber was? Und wie kann man diesen unseren Brüdern und Schwestern helfen, wie ihr Leiden lindern, da man doch nichts oder sehr wenig tun kann, um ihr politisch-soziales Umfeld zu ändern?« Um das Evangelium zu verkünden, sind zwei Tugenden notwendig: Mut und Geduld. Sie [die leidenden Christen] sind in der Kirche der Geduld. Sie leiden, und es gibt heute mehr Märtyrer als in den ersten Jahrhunderten der Kirche; mehr Märtyrer. Unsere Brüder und Schwestern!… Sie leiden. Sie tragen ihren Glauben bis zum Martyrium. Doch das Martyrium ist niemals eine Niederlage; das Martyrium ist der höchste Grad des Zeugnisses, das wir geben müssen. Wir sind unterwegs zum Martyrium, in kleinen Martyrien: auf dies verzichten, jenes tun… aber wir sind unterwegs. Und sie, die Ärmsten, geben ihr Leben hin, aber sie geben es hin – wie wir über die Situation in Pakistan gehört haben – aus Liebe zu Jesus, indem sie Zeugnis geben für Jesus. Ein Christ soll immer diese Haltung der Milde, der Demut haben, genau die Haltung, die sie haben, indem sie auf Jesus vertrauen, sich Jesus anvertrauen.

Man muss allerdings genauer sagen, dass diese Konflikte oftmals nicht religiösen Ursprungs sind; häufig gibt es andere Gründe sozialer und politischer Art, und leider werden die Religionszugehörigkeiten benutzt wie Benzin aufs Feuer. Ein Christ muss immer imstande sein, auf das Böse mit dem Guten zu reagieren, auch wenn das oft schwer ist. Wir versuchen, sie, diese Brüder und Schwestern, spüren zu lassen, dass wir zutiefst verbunden sind mit ihrer Situation – zutiefst verbunden! – und dass wir wissen, dass sie Christen sind, die »in die Geduld eingetreten« sind. Als Jesus auf seine Passion zugeht, tritt er in die Geduld ein. Sie sind in die Geduld eingetreten: Man sollte sie das wissen lassen, aber auch den Herren sollte man es wissen lassen. Ich stelle euch eine Frage: Betet ihr für diese Brüder und Schwestern? Ihr – betet ihr für sie? Im täglichen Gebet? Ich will jetzt nicht bitten, dass, wer es tut, die Hand erhebt, nein, das fordere ich jetzt nicht. Doch denkt gut darüber nach! Sagen wir im täglichen Gebet zu Jesus: »Herr, schau auf diesen Bruder, der so sehr leidet; schau auf diese Schwester, die so sehr leidet!« Sie machen die Erfahrung des Äußersten, wirklich der Grenze zwischen Leben und Tod. Und auch für uns: Diese Erfahrung muss uns dazu führen, die Religionsfreiheit für alle zu fördern, für alle! Jeder Mann und jede Frau muss frei sein im persönlichen religiösen Bekenntnis, gleich welches es sei. Warum? Weil dieser Mann und diese Frau Kinder Gottes sind!

Und so glaube ich, etwas zu euren Fragen gesagt zu haben; ich bitte um Entschuldigung, wenn ich zu ausführlich war. Vielen Dank! Ich danke euch, und vergesst nicht: keine verschlossene Kirche, sondern eine Kirche, die hinausgeht, die an die Randgebiete des Daseins geht. Möge uns der Herr hier unten leiten. Danke.

 



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