BESUCH VON PAPST FRANZISKUS IN NEAPEL
AUS ANLASS DER KONFERENZ “THEOLOGIE NACH VERITATIS GAUDIUM IM KONTEXT DES MITTELMEERRAUMES”
ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
Platz vor der Päpstlichen Theologischen Fakultät für Süditalien (Neapel)
Freitag, 21. Juni 2019
Liebe Studenten und Professoren,
liebe Mitbrüder im bischöflichen und priesterlichen Dienst,
meine Herren Kardinäle!
Ich freue mich, heute mit euch zusammenzutreffen und an dieser Konferenz teilzunehmen. Von Herzen erwidere ich den Gruß des lieben Bruders Patriarch Bartholomaios, ein großer Vorreiter von Laudato si’ – seit Jahren ein Vorreiter –, der mit einer persönlichen Botschaft zu den Reflexionen beitragen wollte. Ein Dank an Bartholomaios, den geliebten Bruder.
Der Mittelmeerraum ist seit jeher Ort der Durchreise, des Austauschs und zuweilen auch der Auseinandersetzungen. Viele von ihnen sind uns bekannt. Dieser Ort stellt uns heute vor eine Reihe von häufig dramatischen Problemen. Man kann sie in einige Fragen übersetzen, die wir uns beim interreligiösen Treffen in Abu Dhabi gestellt haben: Wie können wir in der einen Menschheitsfamilie füreinander sorgen? Wie kann man ein tolerantes und friedliches Zusammenleben fördern, das in echter Geschwisterlichkeit Ausdruck findet? Wie kann man bewirken, dass sich in unseren Gemeinschaften die Aufnahme des anderen durchsetzt, dessen, der anders ist als wir, weil er zu einer religiösen und kulturellen Tradition gehört, die anders ist als unsere eigene? Wie können die Religionen Wege der Brüderlichkeit sein und nicht Mauern der Trennung? Diese und andere Fragen müssen auf mehreren Ebenen analysiert werden und erfordern einen großherzigen Einsatz des Zuhörens, des Studiums und des Austauschs, um Prozesse der Befreiung, des Friedens, der Geschwisterlichkeit und der Gerechtigkeit zu unterstützen. Wir müssen davon überzeugt sein, dass es darum geht, Prozesse in Gang zu setzen, und nicht darum, Räume zu definieren, Räume zu besetzen… Prozesse in Gang setzen.
Eine Theologie der Aufnahme und des Dialogs
Im Rahmen dieser Konferenz habt ihr zunächst Widersprüche und Schwierigkeiten des Mittelmeerraumes analysiert und anschließend über die besten Lösungen nachgedacht. In dieser Hinsicht fragt ihr euch, welche Art von Theologie für den Kontext, in dem ihr lebt und arbeitet, angemessen ist. Ich würde sagen, dass die Theologie besonders in einem derartigen Kontext aufgerufen ist, eine Theologie der Aufnahme zu sein und einen aufrichtigen Dialog mit den sozialen und zivilen Institutionen zu entwickeln, mit den Universitäts- und Forschungszentren, mit den religiösen Führungspersönlichkeiten und mit allen Frauen und Männern guten Willens, und zwar mit dem Ziel, in Frieden eine inklusive und geschwisterliche Gesellschaft aufzubauen und sich auch für die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen.
Wenn in der Einleitung von Veritatis gaudium die Vertiefung des Kerygmas und der Dialog als Kriterien für eine Erneuerung der kirchlichen Studien genannt werden, dann soll damit gesagt sein, dass letztere im Dienst des Weges einer Kirche stehen, die die Evangelisierung immer mehr in den Mittelpunkt stellt. Nicht die Apologetik, nicht die Lehrbücher, wie wir gehört haben: sondern evangelisieren. Im Mittelpunkt steht die Evangelisierung, die kein Proselytismus ist. Im Dialog mit den Kulturen und Religionen verkündet die Kirche die frohe Botschaft Jesu und die Praxis der evangeliumsgemäßen Liebe, die Jesus verkündet hat als Zusammenfassung der gesamten Lehre des Gesetzes, der Visionen der Propheten und des Willens des Vaters. Der Dialog ist vor allem eine Methode der Unterscheidung und der Verkündigung des Wortes der Liebe, das an jeden Menschen gerichtet ist und im Herzen jedes Menschen Wohnstatt nehmen will. Nur im Hören auf dieses Wort und in der Erfahrung der Liebe, die es mitteilt, kann man die Aktualität des Kerygmas erkennen und unterscheiden. Der so verstandene Dialog ist eine Form der Aufnahme. Ich möchte erneut betonen, dass »die geistliche Unterscheidung die Hilfe der menschlichen, existentiellen, psychologischen, soziologischen oder moralischen Weisheit nicht aus[schließt]. Sie transzendiert sie jedoch. Nicht einmal die weisen Normen der Kirche reichen ihr aus. Erinnern wir uns immer daran, dass die Unterscheidung eine Gnade ist«, eine Gabe. […] »Die Unterscheidung führt letzten Endes zur Quelle des Lebens selbst, das nicht stirbt, zur Erkenntnis des Vaters, des einzigen wahren Gottes, und dessen, den er gesandt hat, Jesus Christus (vgl. Joh 17,3)« (Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 170).
Die theologischen Schulen erneuern sich durch die Praxis der Unterscheidung und durch eine dialogische Vorgehensweise, die in der Lage ist, eine entsprechende geistige Atmosphäre und intellektuelle Praxis zu schaffen. Es handelt sich um einen Dialog sowohl in Bezug auf die Sicht der Probleme als auch bei der gemeinsamen Suche nach Lösungsansätzen. Ein Dialog, der das lebendige Kriterium des Pascha Jesu durch die Bewegung der Analogie zu ergänzen versteht, die in der Realität, in der Schöpfung und in der Geschichte theologale Verbindungen, Zeichen und Bezüge sieht. Das beinhaltet die hermeneutische Annahme des Geheimnisses des Weges Jesu, der ihn zum Kreuz, zur Auferstehung und zur Gabe des Geistes führt. Die Annahme dieser jesuanischen und österlichen Logik ist unerlässlich, um zu verstehen, wie die historische und geschaffene Wirklichkeit von der Offenbarung des Geheimnisses der Liebe Gottes hinterfragt wird. Jenes Gottes, der sich in der Geschichte Jesu – jedes Mal und in jedem Widerspruch– als größer in der Liebe und in der Fähigkeit, das Übel wieder gut zu machen, offenbart.
Beide Bewegungen sind notwendig, komplementär: eine Bewegung von unten nach oben, die in der Haltung des Hörens und Unterscheidens mit jedem menschlichen und historischen Bedürfnis einen Dialog führen kann, indem sie das Menschliche in seiner ganzen Substanz berücksichtigt. Und eine Bewegung von oben nach unten – wobei mit »oben« der erhöhte Jesus am Kreuz gemeint ist –, die zugleich erlaubt, die Zeichen des Reiches Gottes in der Geschichte zu erkennen und in prophetischer Weise die Zeichen des Anti-Reiches zu verstehen, die die menschliche Seele und die Geschichte entstellen.
Es ist eine Methode, die es ermöglicht, sich – in einer kontinuierlichen Dynamik – mit jedem menschlichen Anliegen auseinanderzusetzen und zu erkennen, welches christliche Licht jeden Winkel der Realität erleuchtet und welche Energien der Geist des Gekreuzigten und Auferstandenen von mal zu mal, hier und jetzt, weckt. Die dialogische Vorgehensweise ist der Weg, um dorthin zu gelangen, wo die Paradigmen, die Empfindungsweisen, die Symbole, die Vorstellungen der Menschen und Völker Gestalt annehmen. Dorthin gelangen – als »spirituelle Ethnographen « der Seele der Völker, um es einmal so auszudrücken –, um einen tiefgehenden Dialog führen zu können und, wenn möglich, zu ihrer Entwicklung beizutragen durch die Verkündigung des Evangeliums vom Reich Gottes, dessen Frucht das Heranreifen einer immer mehr erweiterten und inklusiveren Geschwisterlichkeit ist.
Dialog und Verkündigung des Evangeliums, die so geschehen können, wie es Franz von Assisi in seiner Nicht bullierten Regel beschreibt, und zwar kurz nach seiner Reise in den mediterranen Orient. Für Franziskus gibt es einen ersten Weg, wie man ganz einfach als Christ lebt: »Eine Art besteht darin, dass sie weder Zank noch Streit beginnen, sondern um Gottes willen jeder menschlichen Kreatur untertan sind und bekennen, dass sie Christen sind« (XVI: FF 43). Dann gibt es einen zweiten Weg, nämlich indem man den christlichen Glauben verkündet als Offenbarung der Liebe Gottes zu allen Menschen in Jesus, stets fügsam gegenüber den Zeichen und dem Handeln des auferstandenen Herrn und seinem Geist des Friedens. Mich beeindruckt sehr dieser Rat von Franziskus an die Brüder: »Verkündet das Evangelium, und wenn nötig auch mit Worten!« Das ist das Zeugnis!
Diese Fügsamkeit gegenüber dem Heiligen Geist geht einher mit einem Stil des Lebens und der Verkündigung, der frei ist von Eroberungsgeist, von Proselytismusbestrebungen – das ist eine Seuche! – und von aggressiver Gegenargumentation zur Widerlegung. Sie geht einher mit einem Modus, der »von innen her« mit den Menschen und mit ihren Kulturen, ihren Geschichten, ihren unterschiedlichen religiösen Traditionen einen Dialog aufnimmt; einen Modus, der in Übereinstimmung mit dem Evangelium auch das Zeugnis bis zur Lebenshingabe umfasst, wie es die leuchtenden Beispiele von Charles de Foucauld, der Mönche von Tibhirine, des Bischofs von Oran, Pierre Claverie, und aller Brüder und Schwestern zeigen, die mit der Gnade Christi treu waren, in Sanftmut und Demut, und die gestorben sind mit dem Namen Jesu auf den Lippen und der Barmherzigkeit im Herzen. Und hier denke ich an die Gewaltlosigkeit als Horizont und Wissen über die Welt, die die Theologie als konstitutives Element im Blick haben muss. Hierbei helfen uns die Schriften und Vorgehensweisen von Martin Luther King, Lanza del Vasto und anderen Friedensstiftern, »Handwerkern« des Friedens.
Es hilft und ermutigt uns, an den seligen Giustino Russolillo zu denken, der an dieser Fakultät studiert hat, und an Don Peppino Diana, den jungen von der Camorra ermordeten Pfarrer, der ebenfalls hier studiert hat. Und hier möchte ich ein gefährliches Syndrom erwähnen, das »Babel-Syndrom«. Wir meinen, das »Babel-Syndrom« bestünde in der Verwirrung, die aufkommt, wenn man nicht versteht, was der andere sagt. Das ist die erste Stufe. Aber das wahre »Babel-Syndrom« besteht darin, dem, was der andere sagt, nicht zuzuhören und zu meinen, man wüsste bereits, was der andere denkt und sagen wird. Das ist eine Seuche!
Beispiele des Dialogs für eine Theologie der Aufnahme
»Dialog« ist keine magische Formel, aber sicherlich wird die Theologie in ihrer Erneuerung unterstützt, wenn sie den Dialog ernst nimmt, wenn er ermutigt und unterstützt wird: zwischen Professoren und Studenten ebenso wie mit anderen Wissensformen und Religionen, vor allem mit dem Judentum und dem Islam. Die Theologiestudenten sollten an den Dialog mit Judentum und Islam herangeführt werden, um die gemeinsamen Wurzeln und die Unterschiede unserer religiösen Identitäten zu verstehen und so wirksamer zum Aufbau einer Gesellschaft beitragen zu können, die die Verschiedenheit schätzt und Respekt, Geschwisterlichkeit und friedliches Zusammenleben unterstützt.
Die Studenten darin ausbilden. Ich habe in der Zeit der dekadenten Theologie, der dekadenten Scholastik, in der Zeit der Handbücher studiert. Unter uns gab es einen Scherz. Alle theologischen Thesen wurden mit diesem Schema bewiesen, einem Syllogismus: 1. So scheinen die Dinge zu sein. 2. Der Katholizismus hat immer recht. 3. Ergo… Das heißt, eine defensive, apologetische Theologie, in ein Lehrbuch eingeschlossen. Darüber haben wir gescherzt, aber es waren die Dinge, die sie uns damals, in der Zeit des dekadenten Scholastizismus, vorgelegt haben. Sich um ein friedliches, dialogisches Zusammenleben bemühen. Wir sind zum Dialog mit den Muslimen aufgerufen, um die Zukunft unserer Gesellschaften und unserer Städte aufzubauen. Wir sind aufgerufen, sie als Partner zu betrachten, um ein friedliches Zusammenleben aufzubauen, auch wenn es zu schockierenden Vorfällen kommt, verursacht von fanatischen Gruppen, die Feinde des Dialogs sind, so wie die Tragödie am vergangenen Osterfest in Sri Lanka.
Gestern hat mir der Kardinal von Colombo Folgendes gesagt: »Nachdem ich getan hatte, was ich tun musste, habe ich bemerkt, dass eine Personengruppe, Christen, in das muslimische Stadtviertel gehen wollte, um sie umzubringen. Ich habe den Imam eingeladen, im Auto mitzukommen, und gemeinsam sind wir dorthin gegangen, um die Christen davon zu überzeugen, dass wir Freunde sind, dass jene Extremisten sind, die nicht zu uns gehören.« Das ist eine Haltung der Nähe und des Dialogs. Studenten zum Dialog mit Juden zu befähigen bedeutet, sie anzuleiten, ihre Kultur, ihre Denkweise, ihre Sprache zu kennen, um unsere Beziehung auf religiöser Ebene besser zu verstehen und zu leben. In den theologischen Fakultäten und kirchlichen Universitäten sollen Kurse arabischer und hebräischer Sprache und Kultur gefördert werden wie auch das gegenseitige Kennenlernen von christlichen, jüdischen und muslimischen Studierenden. Ich möchte zwei konkrete Beispiele dafür anführen, wie der Dialog, der kennzeichnend ist für eine Theologie der Aufnahme, im Bereich der kirchlichen Studien angewandt werden kann.
Zunächst kann der Dialog über die Methode des Lehrens hinaus eine Methode des Studierens sein. Wenn wir einen Text lesen, dann führen wir einen Dialog mit ihm und mit der »Welt«, dessen Ausdruck er ist. Und das gilt auch für die heiligen Schriften wie Bibel, Talmud und Koran. Häufig interpretieren wir einen bestimmten Text dann im Dialog mit anderen Texten derselben Epoche oder unterschiedlicher Epochen. Die Texte der großen monotheistischen Überlieferungen sind in manchen Fällen das Ergebnis eines Dialogs. Es kann Fälle von Texten geben, die geschrieben wurden, um Fragen zu wichtigen Problemen des Lebens zu beantworten, gestellt von Texten, die ihnen vorausgingen. Auch dies ist eine Form des Dialogs.
Das zweite Beispiel ist, dass der Dialog als theologische Hermeneutik an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit geführt werden kann. In unserem Fall: der Mittelmeerraum zu Beginn des dritten Jahrtausends. Es ist unmöglich, diesen Raum realistisch zu deuten, außer im Dialog und als – historische, geographische, menschliche – Brücke zwischen Europa, Afrika und Asien. Es handelt sich um einen Raum, in dem die Abwesenheit von Frieden vielfältige regionale sowie globale Ungleichgewichte verursacht hat und dessen Befriedung durch die Praxis des Dialogs einen enormen Beitrag zur In-Gang-Setzung von Prozessen der Versöhnung und des Friedens leisten könnte. Giorgio La Pira würde uns sagen, dass es für die Theologie darum geht, zum Aufbau eines »großen Friedenszeltes« über dem gesamten Mittelmeerraum beizutragen, wo die unterschiedlichen Kinder des gemeinsamen Vaters Abraham in gegenseitigem Respekt zusammenleben können. Wir wollen unseren gemeinsamen Vater nicht vergessen.
Eine Theologie der Aufnahme ist eine Theologie des Zuhörens
Dialog als theologische Hermeneutik setzt bewusstes Zuhören voraus und geht damit einher. Das bedeutet auch, auf die Geschichte und die gelebte Erfahrung der Völker des Mittelmeerraumes zu hören, um die Ereignisse, die die Vergangenheit mit dem Heute verbinden, zu deuten, und seine Wunden ebenso sehen zu können wie sein Potenzial. Insbesondere geht es darum, die Art und Weise zu erkennen, wie christliche Gemeinschaften und prophetische Einzelexistenzen – auch in jüngster Zeit – in einem von Konflikten geprägten Kontext als Minderheit und im pluralen Zusammenleben mit anderen religiösen Traditionen den christlichen Glauben zu verkörpern gewusst haben.
Dieses Zuhören muss auch noch aus einem anderen Grund tief in den Kulturen und Völkern verwurzelt sein. Gerade das Mittelmeer ist das Meer der »Vermischung« – wenn wir die »Vermischung « nicht verstehen, werden wir niemals den Mittelmeerraum verstehen können –, ein Meer, geographisch gegen die Ozeane abgeschlossen, aber kulturell immer offen für Begegnung, Dialog und gegenseitige Inkulturation. Dennoch bedarf es erneuter und gemeinsamer Narrative, die – ausgehend vom Hören auf die Wurzeln und die Gegenwart – zu den Herzen der Menschen sprechen; Narrative, mit denen man sich konstruktiv, friedlich und hoffnungsvoll zu identifizieren vermag.
Die multikulturelle und pluri-religiöse Realität des neuen Mittelmeerraums wird von diesen Narrativen geformt, im Dialog, der aus dem Hören auf die Menschen und die Texte der großen monotheistischen Religionen entsteht, und vor allem aus dem Hören auf die Jugendlichen. Ich denke an die Studenten unserer theologischen Fakultäten, an jene der »säkularen« oder von anderen religiösen Überzeugungen inspirierten Universitäten. »Wenn die Kirche« – und wir könnten hinzufügen: die Theologie – »jedoch starre Schemen aufgibt und sich öffnet, um den jungen Menschen bereitwillig und aufmerksam zuzuhören, ist diese Empathie für sie bereichernd, denn es ›ermöglicht jungen Menschen, einen Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten und ihr zu helfen, neue Befindlichkeiten aufzugreifen und ganz neue Fragen zu stellen‹« (Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christus vivit, 65). Neue Befindlichkeiten aufgreifen: das ist die Herausforderung.
Die Vertiefung des Kerygmas geschieht durch die Erfahrung des Dialogs, der aus dem Zuhören entsteht und der Gemeinschaft erzeugt. Jesus selbst verkündete das Reich Gottes im Dialog mit den verschiedensten Personen und Gruppen des Judentums seiner Zeit: mit den Schriftgelehrten, den Pharisäern, den Gesetzeslehrern, den Zöllnern, den Gelehrten, den Einfachen, den Sündern. Einer Samariterin offenbarte er im Zuhören und im Dialog die Gabe Gottes und seine eigene Identität: er eröffnete ihr das Geheimnis seiner Gemeinschaft mit dem Vater und der überreichen Fülle, die aus dieser Gemeinschaft hervorgeht. Sein göttliches Hören auf das menschliche Herz öffnet dieses Herz für die Annahme der Fülle der Liebe und der Lebensfreude. Mit dem Dialog verliert man nichts. Man gewinnt immer etwas. Im Monolog verlieren wir alle, alle.
Eine interdisziplinäre Theologie
Eine Theologie der Aufnahme, die Unterscheidung und aufrichtigen Dialog als Auslegungsmethode für die Wirklichkeit wählt, braucht Theologen, die gemeinsam und interdisziplinär zu arbeiten verstehen und so den Individualismus intellektueller Tätigkeit überwinden können. Wir brauchen Theologen – Männer und Frauen, Priester, Laien und Ordensleute –, die historisch und kirchlich verwurzelt und zugleich offen für das unerschöpfliche Neue des Heiligen Geistes sind und einer selbstreferentiellen, kompetitiven und verblendenden Logik entgehen können, die es oft auch in unseren akademischen Institutionen gibt und, versteckt, sehr häufig zwischen den einzelnen theologischen Schulen.
Auf diesem Weg des beständigen Hinausgehens aus sich selbst und der Begegnung mit dem anderen ist es wichtig, dass die Theologen von Mitgefühl geprägte Männer und Frauen sind – ich betone: dass sie Männer und Frauen des Mitgefühls sind –, berührt vom geknechteten Leben vieler Menschen, durch heutige Formen der Versklavung, soziale Missstände, Gewalt, Krieg und enorme Ungerechtigkeiten, die so viele Arme erleiden, die an den Ufern dieses »gemeinsamen Meeres« leben. Ohne Gemeinschaft und ohne Mitgefühl, die beständig vom Gebet getragen werden – das ist wichtig: man kann Theologie nur »auf den Knien« betreiben –, verliert die Theologie nicht nur die Seele, sondern sie verliert die Einsicht und die Fähigkeit, die Wirklichkeit christlich zu deuten. Ohne Mitleid, geschöpft aus dem Herzen Christi, laufen die Theologen Gefahr, von der privilegierten Situation desjenigen verschlungen zu werden, der sich vorsichtig außerhalb der Welt platziert und keines der Risiken mit der Mehrheit der Menschheit teilt. Labortheologie, reine und »destillierte« Theologie, destilliert wie Wasser, destilliertes Wasser, das nach nichts schmeckt.
Ich möchte ein Beispiel dafür nennen, wie Interdisziplinarität, die Geschichte interpretiert, eine Vertiefung des Kerygmas und offen für Transdisziplinarität sein kann, wenn sie von Barmherzigkeit beseelt ist. Ich beziehe mich insbesondere auf alle aggressiven und kriegerischen Haltungen, die die Lebensweise der den Mittelmeerraum bewohnenden und sich christlich nennenden Völker geprägt haben. Dazu gehören sowohl die kolonialen Einstellungen und Praktiken, die das Imaginarium und die Politik dieser Völker so stark geprägt haben, als auch die Rechtfertigungen für alle Arten von Kriegen, sowie alle Verfolgungen, die im Namen einer Religion oder einer vorgeblichen Reinheit von Rasse und Lehre unternommen wurden. Diese Verfolgungen haben auch wir durchgeführt. Ich erinnere mich, dass im Chanson de Roland nach dem Sieg in der Schlacht die Muslime sich reihenweise, alle, vor dem Taufbecken, dem Taufpfeiler aufstellen mussten. Dort war jemand mit einem Schwert.
Und sie ließen sie wählen: Entweder wirst du getauft oder tschüss! Du gehst ins Jenseits. Entweder Taufe oder Tod. Wir haben das getan. Angesichts dieser komplexen und schmerzlichen Geschichte kann die Methode des Dialogs und des Zuhörens, geleitet vom dem evangeliumsgemäßen Kriterium der Barmherzigkeit, die Kenntnis und die interdisziplinäre Neuinterpretation sehr bereichern, indem sie auch – als Gegensatz – die Friedensprophetien hervortreten lässt, die der Heilige Geist immer wieder geweckt hat.
Interdisziplinarität als Kriterium für die Erneuerung der Theologie und der kirchlichen Studien umfasst die Verpflichtung, die Tradition beständig zu überdenken und neu zu befragen. Die Tradition überdenken! Und neu befragen. Denn das Zuhören als christliche Theologen geschieht keineswegs aus dem Nichts, sondern aus einem theologischen Erbe heraus, das – gerade im Mittelmeerraum – seine Wurzeln in den Gemeinden des Neuen Testaments, in der reichen Reflexion der Väter und in vielen Generationen von Denkern und Zeugen hat. Diese bis zu uns gelangte lebendige Überlieferung kann dazu beitragen, viele der zeitgenössischen Probleme zu erhellen und zu entschlüsseln. Unter der Bedingung jedoch, dass sie neu gelesen wird mit einem aufrichtigen Willen zur Reinigung des Gedächtnisses, das heißt, dass man zu unterscheiden weiß, was Übermittlung der ursprünglichen, im Geist Jesu Christi offenbarten Absicht Gottes war, und was dagegen dieser barmherzigen und rettenden Absicht untreu war. Vergessen wir nicht, dass die Tradition eine Wurzel ist, die uns Leben schenkt: Sie übermittelt uns Leben, damit wir wachsen und blühen, Frucht bringen können. Häufig denken wir an die Tradition wie an ein Museum.
Nein! Vergangene Woche oder die Woche davor habe ich ein Zitat von Gustav Mahler gelesen, das lautet: »Tradition ist Garantie für die Zukunft, nicht Bewahrung der Asche.« Das ist schön! Leben wir die Tradition als Baum, der lebt und wächst. Bereits im fünften Jahrhundert hat Vinzenz von Lérins das gut verstanden: das Wachsen des Glaubens, der Tradition mit diesen drei Kriterien: »annis consolidetur, dilatetur tempore, sublimetur aetate«. Das ist die Tradition! Aber ohne Tradition kannst du nicht wachsen! Die Tradition ist für das Wachstum das, was die Wurzel für den Baum ist.
Eine vernetzte Theologie
Die Theologie nach Veritatis gaudium ist eine vernetzte Theologie und im mediterranen Kontext eine Theologie in der Solidarität mit allen »Schiffbrüchigen« der Geschichte. Für die theologische Aufgabe, die uns erwartet, verweisen wir auf den heiligen Paulus und den Weg des Christentums in den Anfängen, der Orient und Okzident miteinander verbindet. Hier, sehr nahe bei dem Ort, wo Paulus an Land ging, muss erwähnt werden, dass die Reisen des Apostels von offensichtlichen Problemen gekennzeichnet waren, wie zum Beispiel beim Schiffbruch mitten im Mittelmeer (Apg 27,9ff). Ein Schiffbruch, der an den des Propheten Jona erinnert. Aber Paulus flieht nicht, und er kann sogar meinen, dass Rom sein Ninive ist. Er könnte meinen, die pessimistische Haltung des Propheten Jona zu korrigieren, indem er seine Flucht wieder gut macht. Jetzt, da das westliche Christentum aus vielen Fehlern und Kritikpunkten der Vergangenheit gelernt hat, kann es zu seinen Quellen zurückkehren, in der Hoffnung, den Völkern des Ostens und des Westens, des Nordens und des Südens die frohe Botschaft bezeugen zu können. Wenn die Theologie Geist und Herz fest auf »den gnädigen und barmherzigen Gott« (vgl. Jona 4,2) gerichtet hält, kann sie Kirche und Zivilgesellschaft helfen, den Weg gemeinsam mit den vielen Schiffbrüchigen wieder aufzunehmen und die Bevölkerung des Mittelmeerraumes ermutigen, jede Versuchung zu Rückeroberung und identitärer Abkapselung zurückzuweisen. Beide entstehen aus der Angst, werden von ihr gespeist und vermehren sich durch sie. Man kann Theologie nicht in einem von Angst geprägten Umfeld betreiben.
Die Arbeit der theologischen Fakultäten und kirchlichen Universitäten trägt zum Aufbau einer gerechten und geschwisterlichen Gesellschaft bei, in der die Bewahrung der Schöpfung und die Schaffung von Frieden das Resultat der Zusammenarbeit zwischen zivilen, kirchlichen und interreligiösen Institutionen sind. Zuallererst geht es um eine Arbeit im »Netz des Evangeliums«, das heißt in Gemeinschaft mit dem Geist Jesu, der der Geist des Friedens, der Geist der Liebe ist und der in der Schöpfung und im Herzen der Männer und Frauen guten Willens jeglicher Herkunft sowie aller Kulturen und Religionen wirkt. Wie die Sprache, die Jesus gebraucht, um vom Reich Gottes zu sprechen, so möchten analog Interdisziplinarität und Vernetzung die Unterscheidung der Gegenwart des Geistes des Auferstandenen in der Realität erleichtern. Ausgehend vom Verständnis des Wortes Gottes in seinem ursprünglichen mediterranen Kontext ist es möglich, die Zeichen der Zeit in neuen Kontexten zu erkennen.
Theologie nach Veritatis gaudium im Kontext des Mittelmeerraumes
Ich habe Veritatis gaudium immer wieder stark betont. Ich möchte hier, in seiner Anwesenheit, öffentlich Erzbischof Zani danken, der einer der Urheber dieses Dokuments war. Danke! Was also ist die Aufgabe der Theologie nach Veritatis gaudium im Kontext des Mittelmeerraumes? Kommen wir zum Punkt: Was ist die Aufgabe? Sie muss in Einklang stehen mit dem Geist Jesu, des Auferstandenen, mit seiner Freiheit, in die ganze Welt hinauszugehen und die Randgebiete, auch die des Denkens, zu erreichen.
Die Theologen haben die Aufgabe, immer neu die Begegnung der Kulturen mit den Quellen der Offenbarung und der Tradition zu fördern. Die altehrwürdigen Gedankengebäude, die großen theologischen Synthesen der Vergangenheit sind Fundgruben theologischer Weisheit, aber man kann sie nicht mechanisch auf die aktuellen Fragen anwenden. Es geht darum, sie zu beherzigen, um neue Wege zu suchen. Gott sei Dank sind die Primärquellen der Theologie, das heißt das Wort Gottes und der Heilige Geist, unerschöpflich und immer fruchtbar. Daher muss man in Richtung eines »theologischen Pfingsten« arbeiten, das den Frauen und Männern unserer Zeit erlaubt, »in ihrer eigenen Sprache« eine christliche Reflexion zu hören, die auf ihre Suche nach Sinn und einem Leben in Fülle antwortet. Damit dies geschieht, sind einige Voraussetzungen unerlässlich.
Vor allem muss man vom Evangelium der Barmherzigkeit ausgehen, das heißt von der Verkündigung Jesu und den ursprünglichen Kontexten der Evangelisierung. Theologie entsteht mitten unter konkreten Menschen, denen man mit dem Blick und dem Herzen Gottes begegnet, der sich mit barmherziger Liebe auf die Suche nach ihnen macht. Auch Theologie betreiben ist ein Akt der Barmherzigkeit. Hier in dieser Stadt, wo es nicht nur Episoden der Gewalt gibt, sondern auch viele Traditionen und Beispiele der Heiligkeit – neben dem Meisterwerk von Caravaggio zum Thema der Werke der Barmherzigkeit und dem Zeugnis des heiligen Arztes Giuseppe Moscati –, möchte ich wiederholen, was ich an die Theologische Fakultät der Katholischen Universität Argentiniens geschrieben habe: »Auch die guten Theologen riechen wie die guten Hirten nach Volk und nach Straße und gießen mit ihren Überlegungen Öl und Wein auf die Wunden der Menschen. Die Theologie soll Ausdruck einer Kirche sein, die ›Feldlazarett‹ ist und ihre Sendung des Heils und der Heilung in der Welt lebt. Die Barmherzigkeit ist nicht nur eine seelsorgliche Haltung, sondern sie ist das eigentliche Wesen des Evangeliums Jesu. Ich ermutige euch zu studieren, wie sich in den verschiedenen Disziplinen – Dogmatik, Moral, Spiritualität, Recht usw. – die Zentralität der Barmherzigkeit widerspiegeln kann. Ohne die Barmherzigkeit laufen unsere Theologie, unsere Rechtslehre und unsere Seelsorge Gefahr, in die bürokratische Engstirnigkeit abzurutschen oder in die Ideologie, die von Natur aus dem Mysterium die Flügel stutzen will.«[1] Durch den Weg der Barmherzigkeit wehrt sich die Theologie dagegen, dass dem Mysterium die Flügel gestutzt werden.
Zweitens ist es notwendig, die Geschichte wirklich ernsthaft in die Theologie hineinzunehmen, und zwar als für die Begegnung mit dem Herrn offener Raum. »Denn die Fähigkeit, die Gegenwart Christi und den Weg der Kirche in der Geschichte zu erahnen, macht uns demütig und befreit uns von der Versuchung, uns in die Vergangenheit zu flüchten, um der Gegenwart zu entkommen. Und das war die Erfahrung von vielen, vielen Wissenschaftlern, die als – ich will nicht sagen – Atheisten, aber ein wenig als Agnostiker begannen und dann Christus gefunden haben. Denn die Geschichte war ohne diese Macht nicht zu verstehen.«[2] Die theologische Freiheit ist notwendig. Ohne die Möglichkeit, neue Wege zu erproben, wird nichts Neues geschaffen und der Neuheit des Geistes des Auferstandenen kein Raum gegeben: »Denjenigen, die sich eine monolithische, von allen ohne Nuancierungen verteidigte Lehre erträumen, mag das als Unvollkommenheit und Zersplitterung erscheinen. Doch in Wirklichkeit hilft diese Vielfalt, die verschiedenen Aspekte des unerschöpflichen Reichtums des Evangeliums besser zu zeigen und zu entwickeln« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 40). Das bedeutet auch eine angemessene Überprüfung der »ratio studiorum«. Bei der Freiheit der theologischen Reflexion würde ich eine Unterscheidung treffen. Unter den Wissenschaftlern muss man mit Freiheit vorangehen. Dann, als letzte Instanz, wird das Lehramt das Wort haben, aber man kann ohne diese Freiheit keine Theologie betreiben. Aber bei der Predigt an das Volk Gottes darf man bitte nicht den Glauben des Volkes Gottes mit strittigen Fragen verletzen! Die strittigen Fragen sollten nur unter Theologen bleiben. Das ist eure Aufgabe. Aber dem Volk Gottes muss die Substanz gegeben werden, die den Glauben nährt und ihn nicht relativiert.
Schließlich ist es unerlässlich, mit leichten und flexiblen Strukturen ausgestattet zu sein, die bezeugen, dass die Priorität der Aufnahme und dem Dialog gegeben wird, der inter- und transdisziplinären sowie der vernetzten Arbeit. Die Statuten, die interne Organisation, die Lehrmethode, die Studienordnung sollten die Physiognomie der Kirche »im Aufbruch« widerspiegeln. Alles soll in den Zeitplänen und Modalitäten darauf ausgerichtet sein, dass die Teilnahme derer, die Theologie studieren möchten, möglichst gefördert wird: über die Seminaristen und Ordensmänner hinaus auch Laien und Frauen, Laiinen wie Ordensfrauen. Insbesondere ist der Beitrag, den Frauen zur Theologie leisten und leisten können, unerlässlich, und deshalb sollte ihre Beteiligung unterstützt werden, wie es an dieser Fakultät geschieht, wo es eine gute Beteiligung von Frauen als Dozentinnen und als Studentinnen gibt.
Dieser wunderschöne Ort – Sitz der dem heiligen Luigi [Gonzaga] gewidmeten Theologischen Fakultät, dessen Gedenktag wir heute feiern – möge Symbol einer Schönheit sein, die geteilt werden muss und für alle offen ist. Ich träume von Theologischen Fakultäten, wo das Miteinander der Unterschiede gelebt wird, wo eine Theologie des Dialogs und der Aufnahme praktiziert wird, wo das theologische Wissen nach dem Modell des Polyeders erlebt wird und nicht als statische und körperlose Kugel. Wo die theologische Forschung in der Lage ist, einen herausfordernden, aber überzeugenden Prozess der Inkulturation zu fördern.
Schluss
Die Kriterien in der Einleitung der Apostolischen Konstitution Veritatis gaudium sind Kriterien, die dem Evangelium entnommen sind. Das Kerygma, der Dialog, das Unterscheiden, die Zusammenarbeit, die Vernetzung – ich würde auch die Parrhesia hinzufügen, die als Kriterium angeführt worden ist und die Fähigkeit meint, an der Grenze zu sein, zusammen mit der »hypomoné«, der Geduld; an der Grenze sein, um voranzugehen – sind Elemente und Kriterien, die Art und Weise umzusetzen, wie das Evangelium von Jesus selbst gelebt und verkündet worden ist und wie es auch heute von seinen Jüngern weitergegeben werden kann.
Die Theologie nach Veritatis gaudium ist eine kerygmatische Theologie, eine Theologie der Unterscheidung, der Barmherzigkeit und der Aufnahme, die im Dialog mit der Gesellschaft, den Kulturen und Religionen steht, um das friedliche Zusammenleben von Individuen und Völkern aufzubauen. Das Mittelmeer ist die historische, geographische und kulturelle Matrix der kerygmatischen Aufnahme, die durch Dialog und Barmherzigkeit praktiziert wird. Neapel ist ein Beispiel und ein besonderes Laboratorium für diese theologische Forschung. Gute Arbeit!
[1] Brief an den Großkanzler der »Pontificia Universidad Católica Argentina« zum 100-jährigen Jubiläum der Theologischen Fakultät, 3. März 2015.
[1] Ansprache an die Vereinigung der Professoren für Kirchengeschichte, 12. Januar 2019.
Copyright © Dicastero per la Comunicazione - Libreria Editrice Vaticana