Index   Back Top Print

[ DE  - EN  - ES  - FR  - IT  - PT ]

ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE TEILNEHMER DER KONFERENZ ZUM THEMA

"RELIGIONEN UND NACHHALTIGE ENTWICKLUNGSZIELE"

Clementina-Saal
Freitag, 8. März 2019

[Multimedia]


 

Eminenzen, Exzellenzen,
liebe Verantwortliche der Weltreligionen,
Vertreter der Internationalen Organisationen,
sehr geehrte Damen und Herren!

Herzlich heiße ich Sie alle willkommen, die Sie sich zu dieser Internationalen Konferenz zum Thema »Religionen und Ziele für nachhaltige Entwicklung« hier versammelt haben!

Nachhaltigkeit und Inklusion

Wenn wir über Nachhaltigkeit sprechen, dürfen wir nicht außer Acht lassen, wie wichtig es ist, alle einzuschließen und alle Stimmen zu hören, besonders die Stimmen jener, die gewöhnlich von dieser Art von Debatten ausgeschlossen sind: die Stimmen der Armen, der Migranten, der indigenen Völker und der jungen Menschen. Ich freue mich, auf dieser Konferenz eine große Vielfalt an Teilnehmern zu sehen, die zahlreiche Stimmen, Meinungen und Vorschläge mitbringen, die zu neuen Wegen konstruktiver Entwicklung beitragen können. Es ist wichtig, dass die Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung ihrem ursprünglichen Wesen folgt, das inklusiv und partizipativ sein soll.

Die Agenda 2030 und die Ziele für nachhaltige Entwicklung, die im September 2015 von über 190 Nationen approbiert wurden, waren ein großer Schritt nach vorn für das globale Gespräch, im Zeichen einer notwendigen »neuen universalen Solidarität« (Enzyklika Laudato si’, 14). Mehrere religiöse Traditionen, einschließlich der katholischen, haben die Ziele für nachhaltige Entwicklung übernommen, da sie das Ergebnis partizipativer globaler Prozesse sind, die einerseits die menschlichen Werte widerspiegeln und andererseits von einer ganzheitlichen Sicht der Entwicklung getragen sind.

Ganzheitliche Entwicklung

Um einen Dialog über eine inklusive und nachhaltige Entwicklung führen zu können, muss man jedoch auch erkennen, dass »Entwicklung« ein komplexer und oft instrumentalisierter Begriff ist. Wenn wir von Entwicklung sprechen, müssen wir stets klären: Entwicklung von was? Entwicklung für wen? Zu lange war die konventionelle Vorstellung von Entwicklung fast vollständig auf das wirtschaftliche Wachstum beschränkt. Die Indikatoren für die nationale Entwicklung gründeten auf den Indexen des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das hat das moderne Wirtschaftssystem auf einen gefährlichen Pfad geführt, der den Fortschritt nur im Sinne des materiellen Wachstums bewertet hat, für das wir gleichsam gezwungen sind, sowohl die Natur als auch die Menschen irrational auszubeuten.

Über den Fortschritt des Menschen zu sprechen bedeutet in Wirklichkeit, wie mein Vorgänger, der heilige Paul VI., betont hat, alle Menschen – nicht nur einige wenige – und den ganzen Menschen – nicht nur die materielle Dimension – in Betracht zu ziehen (vgl. Enzyklika Populorum progressio, 14). Daher sollte eine fruchtbare Debatte über den Fortschritt umsetzbare Modelle der sozialen Integration und der ökologischen Umkehr anbieten, denn wir können uns nicht als Menschen entwickeln, wenn wir wachsende Ungleichheit und die Zerstörung der Umwelt vermehren.[1] Die Anprangerung negativer Modelle und die Vorschläge von alternativen Wegen gelten nicht nur für die anderen, sondern auch für uns.

Denn wir alle müssen uns bemühen, die Entwicklungsziele zu fördern und umzusetzen, die von unseren tiefsten religiösen und ethischen Werten gestützt werden. Die menschliche Entwicklung ist weder ein rein wirtschaftliches noch ein nur Fachleute betreffendes Problem, sondern es ist vor allem eine Berufung, ein Appell, der eine freie und verantwortliche Antwort verlangt (vgl. Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate, 16-17).

Ziele (Dialog und Verpflichtungen)

Und Antworten sind das, was ich mir von dieser Konferenz erhoffe: konkrete Antworten auf den Schrei der Erde und den Schrei der Armen. Konkretes Bemühen um die Förderung einer echten nachhaltigen Entwicklung durch Prozesse, die offen sind für die Beteiligung der Menschen. Konkrete Vorschläge, um die Entwicklung derer zu fördern, die Not leiden, indem man sich das zunutze macht, was Papst Benedikt XVI. als die Möglichkeit erkannt hat, »auf weltweiter Ebene eine noch nie dagewesene große Neuverteilung des Reichtums« zu erlangen (ebd., 42). Konkrete wirtschaftspolitische Maßnahmen, die auf den Menschen ausgerichtet sind und eine Humanisierung des Marktes und der Gesellschaft bewirken (vgl. ebd., 45.47). Konkrete wirtschaftliche Maßnahmen, die unser gemeinsames Haus ernsthaft in Betracht ziehen. Konkrete ethische, zivile und politische Bemühungen, um sich an der Seite unserer Schwester Erde und nicht ungeachtet ihrer zu entwickeln.

Alles ist miteinander verbunden

Ich freue mich auch zu erfahren, dass die Teilnehmer an dieser Konferenz bereit sind, bei der Debatte über die Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung die religiösen Stimmen zu hören. In der Tat sind alle Teilnehmer am Dialog über diese komplexe Frage in gewissem Maße aufgerufen, das eigene Spezialgebiet zu verlassen, um gemeinsame Antworten zu finden auf den Schrei der Erde und der Armen. Was die religiösen Menschen betrifft, so müssen wir die Schätze unserer besten Traditionen öffnen für einen echten und respektvollen Dialog darüber, wie wir die Zukunft unseres Planeten aufbauen sollen. Wenngleich die religiösen Erzählungen uralt sind, so sind sie dennoch voller Symbolik und in ihnen ist »schon eine heutige Überzeugung enthalten: dass alles aufeinander bezogen ist und dass die echte Sorge für unser eigenes Leben und unsere Beziehungen zur Natur nicht zu trennen ist von der Brüderlichkeit, der Gerechtigkeit und der Treue gegenüber den anderen« (Enzyklika Laudato si’, 70).

In diesem Sinne schlägt die Agenda 2030 der Vereinten Nationen vor, alle Ziele durch die fünf »P« zu ergänzen: »People, Planet, Prosperity, Peace, Partnership« [Menschen, Planet, Wohlergehen, Frieden und Partnerschaft].[2] Ich weiß, dass diese Konferenz ebenfalls um diese fünf »P« herum strukturiert ist.

Ich nehme diesen integrierten Ansatz der Ziele gerne an: Er kann auch dazu dienen, uns vor einem Wohlstandsdenken auf der Grundlage des Mythos vom unbegrenzten Wachstum und Konsum zu bewahren (vgl. Enzyklika Laudato si’, 106), für deren Nachhaltigkeit wir nur vom technologischen Fortschritt abhängig wären. Noch immer gibt es einige, die auf diesem Mythos beharren und behaupten, dass die sozialen und ökologischen Probleme sich allein durch die Anwendung neuer Technologien lösen werden, ohne ethische Bedenken und grundlegende Änderungen (vgl. ebd., 60).

Ein ganzheitlicher Ansatz lehrt uns, dass das nicht stimmt. Auch wenn es natürlich notwendig ist, sich auf eine Reihe von Entwicklungszielen auszurichten, so ist dies nicht ausreichend für eine gerechte und nachhaltige Weltordnung. Die wirtschaftlichen und politischen Ziele müssen von ethischen Zielen gestützt werden, die einen Sinneswandel – die Bibel würde sagen, einen Wandel des Herzens – voraussetzen (vgl. ebd., 218). Schon der heilige Johannes Paul II. sprach von der Notwendigkeit, »eine ökologische Umkehr zu ermutigen und zu unterstützen« (Generalaudienz, 17. Januar 2001; in O.R. dt., Nr. 4, 26.1.2001, S. 2). Das ist ein starkes Wort: ökologische Umkehr. Hier nehmen die Religionen eine Schlüsselrolle ein. Für einen korrekten Übergang zu einer nachhaltigen Zukunft ist es notwendig, »die eigenen Fehler, Sünden, Laster oder Nachlässigkeiten einzugestehen«, ist es notwendig, »sie von Herzen zu bereuen, sich von innen her zu ändern«, um mit den anderen, mit der Schöpfung und mit dem Schöpfer versöhnt zu sein (vgl. Enzyklika Laudato si’, 218).

Wenn wir die Arbeit an der Agenda 2030 auf solide Grundlagen stellen wollen, müssen wir die Versuchung zurückweisen, einfach nur eine technokratische Antwort auf die Herausforderungen zu suchen – das geht nicht –, sondern müssen bereit sein, uns den tieferen Ursachen und den langfristigen Folgen zu stellen.

Indigene Völker

Das Grundprinzip aller Religionen ist die Liebe zu unseren Mitmenschen und die Bewahrung der Schöpfung. Ich möchte eine besondere Gruppe religiöser Menschen hervorheben: die indigenen Völker. Wenngleich sie nur fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, tragen sie Sorge für fast 22 Prozent der Erdoberfläche. Sie leben in Gebieten wie Amazonien und der Arktis und tragen so dazu bei, etwa 80 Prozent der Biodiversität des Planeten zu schützen. Der UNESCO zufolge sind »die indigenen Völker Hüter und Spezialisten von Kulturen und einzigartigen Beziehungen zur natürlichen Umwelt. Sie stellen eine große Bandbreite linguistischer und kultureller Vielfalt im Herzen unserer gemeinsamen Menschheit dar«.[3] Ich würde hinzufügen, dass diese Völker in einer stark säkularisierten Welt allen die Sakralität unserer Erde in Erinnerung rufen. Aus diesen Gründen sollten ihre Stimme und ihre Sorgen im Mittelpunkt der Umsetzung der Agenda 2030 und auch im Mittelpunkt der Suche nach neuen Wegen für eine nachhaltige Zukunft stehen. Ich werde darüber auch mit meinen Brüdern im Bischofsamt auf der Synode für das Amazonas-Gebiet Ende Oktober diesen Jahres sprechen.

Fazit

Liebe Brüder und Schwestern, heute, dreieinhalb Jahre nach der Annahme der Ziele für nachhaltige Entwicklung, müssen wir uns noch deutlicher bewusst werden, wie wichtig es ist, unser Handeln zu beschleunigen und anzupassen, um sowohl auf den Schrei der Erde als auch auf den Schrei der Armen zu antworten (vgl. Enzyklika Laudato si’, 49): Sie sind miteinander verbunden.

Die Herausforderungen sind komplex und haben zahlreiche Ursachen; die Antwort muss daher auch ihrerseits komplex und vielschichtig sein und muss den vielgestaltigen kulturellen Reichtum der Völker achten. Wenn uns wirklich daran gelegen ist, eine Ökologie zu entwickeln, die in der Lage ist, den Schaden, den wir angerichtet haben, wiedergutzumachen, dann darf kein Wissenschaftszweig und keine Form der Weisheit beiseitegelassen werden, und das schließt auch die Religionen mit ihrer eigenen Sprache ein (vgl. ebd., 63). Die Religionen können uns helfen, auf dem Weg einer wirklichen ganzheitlichen Entwicklung zu wandeln, die der neue Name des Friedens ist (vgl. Paul VI., Populorum progressio, 76-77).

Ich danke Ihnen aufrichtig für Ihre Bemühungen um die Sorge für unser gemeinsames Haus, im Dienst der Förderung einer inklusiven nachhaltigen Zukunft. Ich weiß, dass es manchmal eine allzu schwierige Aufgabe zu sein scheint.

Aber »die Menschen, die fähig sind, sich bis zum Äußersten herabzuwürdigen, können sich auch beherrschen, sich wieder für das Gute entscheiden und sich bessern, über alle geistigen und sozialen Konditionierungen hinweg, die sich ihnen aufdrängen« (Enzyklika Laudato si’, 205). Das ist der Wandel, den die gegenwärtigen Umstände verlangen, denn das Unrecht, das die Erde und die Armen weinen lässt, ist nicht unbesiegbar. Danke.


[1] Wenn zum Beispiel aufgrund der ungleichen Machtverteilung eine enorme Schuldenlast auf die Schultern der Armen und der armen Länder abgewälzt wird, wenn die Arbeitslosigkeit weit verbreitet ist trotz der Erweiterung des Handels oder wenn die Menschen einfach nur als Mittel zum Wachstum anderer behandelt werden, dann muss das entsprechende Entwicklungsmodell vollständig in Frage gestellt werden. Auch wenn wir im Namen des Fortschritts die Quelle der Entwicklung, unser gemeinsames Haus, zerstören, muss das herrschende Modell in Frage gestellt werden. Indem sie ein solches Modell hinterfragen und die Weltwirtschaft einer Revision unterziehen, sollten die Gesprächspartner im Dialog über die Entwicklung in der Lage sein, ein alternatives globales System für Wirtschaft und Politik zu finden. Dazu müssen wir jedoch den Ursachen für die verzerrte Entwicklung auf den Grund gehen, also dem, was in der jüngeren katholischen Soziallehre als »strukturelle Sünde« bezeichnet wird. Die Anprangerung dieser Sünden ist bereits ein guter Beitrag, den die Religionen zur Debatte über die Entwicklung der Welt leisten. Dennoch müssen wir neben der Anprangerung den Menschen und den Gemeinschaften auch gangbare Wege der Umkehr anbieten.

[2] Vgl. Vereinte Nationen, Die Welt im Wandel: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, 2015.

[3] UNESCO, Botschaft von Frau Irina Bokova, Generaldirektorin der UNESCO, zum Welttag der indigenen Völker, 9. August 2017.

 



Copyright © Dicastero per la Comunicazione - Libreria Editrice Vaticana