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Ansprache des Heiligen Vaters

zum Abschluss des ökumenischen Gebets

“Der Herr hat Gedanken des Friedens.

Gemeinsam für den Libanon”

1. Juli 2021

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Liebe Brüder und Schwestern,

heute sind wir, angetrieben von der Sorge um den Libanon, zum Gebet und zum Nachdenken zusammengekommen. Es regt sich eine starke Sorge, wenn man auf dieses in eine schwere Krise geratene Land schaut. Ich trage dieses Land im Herzen und hege den Wunsch, es zu besuchen. Allen Teilnehmern bin ich dankbar für die bereitwillige Annahme der Einladung und für die brüderliche Gemeinschaft. Gestützt durch das Gebet des heiligen Gottesvolkes, haben wir Hirten in dieser dunklen Stunde gemeinsam versucht, uns am Licht Gottes zu orientieren. Und in seinem Licht haben wir vor allem unsere Trübheit gesehen: die Fehler, die wir begangen haben, als wir das Evangelium nicht konsequent und vollumfänglich bezeugt haben, die verpassten Chancen auf dem Weg der Geschwisterlichkeit, der Versöhnung und der vollen Einheit. Hierfür bitten wir um Verzeihung und mit reuevollem Herzen rufen wir: „Hab Erbarmen mit mir, Herr!“ (Mt 15,22).

Dies war der Schrei einer Frau, die gerade in der Gegend von Tyrus und Sidon Jesus begegnete und ihn angsterfüllt und unaufhörlich anflehte: „Herr, hilf mir!“ (V. 25). Dieser Schrei ist heute zu dem eines gesamten Volkes geworden, des libanesischen Volkes, das enttäuscht und abgekämpft ist und Gewissheiten, Hoffnung und Frieden benötigt. Mit unserem Gebet wollten wir diesen Schrei begleiten. Lassen wir nicht davon ab, werden wir nicht müde, vom Himmel jenen Frieden zu erbitten, für dessen Schaffung auf Erden sich die Menschen abmühen. Erbitten wir ihn inständig für den Nahen Osten und den Libanon. Dieses liebenswerte Land, das ein Schatz der Zivilisation und Spiritualität ist, über die Jahrhunderte Weisheit und Kultur ausgestrahlt hat und die einzigartige Erfahrung eines friedlichen Zusammenlebens bezeugt, kann nicht einfach dem Schicksal oder denen ausgeliefert werden, die skrupellos ihre eigenen Interessen verfolgen. Denn der Libanon ist ein kleines und großes Land zugleich, aber er ist noch mehr: Er ist eine universale Botschaft des Friedens und der Geschwisterlichkeit, die aus dem Nahen Osten aufsteigt.

Ein Satz, den der Herr in der Schrift sagt, ist heute unter uns erklungen, gleichsam als Antwort auf den Schrei unseres Gebets. Es sind wenige Worte, mit denen Gott erklärt, „Gedanken des Friedens und nicht des Unheils“ (Jer 29,11) zu hegen. Gedanken des Friedens und nicht des Unheils. In diesen Zeiten des Unheils wollen wir mit all unseren Kräften beteuern, dass der Libanon ein Gedanke des Friedens ist und bleiben muss. Seine Berufung ist, ein Land der Toleranz und des Pluralismus zu sein, eine Oase der Geschwisterlichkeit, wo die verschiedenen Religionen und Konfessionen sich begegnen, wo unterschiedliche Gemeinschaften zusammenleben, indem sie das Gemeinwohl vor die Partikularinteressen stellen. Es ist daher von wesentlicher Bedeutung, das möchte ich unterstreichen, »dass sich die Machthabenden endlich entschlossen in den Dienst des Friedens stellen und nicht ihren eigenen Interessen dienen. Es muss damit Schluss sein, dass die Gewinne einiger weniger auf Kosten so vieler erwirtschaftet werden. … Schluss damit, dass parteiische Wahrheiten über den Hoffnungen der Menschen stehen!« (Ansprache am Ende des Dialogtreffens, Bari, 7. Juli 2018). Schluss damit, den Libanon und den Nahen Osten für fremde Interessen und Profite zu benutzen! Es tut not, den Libanesen die Möglichkeit zu geben, in ihrem Land ohne ungebührliche Einmischungen Akteure einer besseren Zukunft zu sein.

Gedanken des Friedens und nicht des Unheils. Ihr, liebe Libanesen, habt euch im Lauf der Jahrhunderte auch in den schwierigsten Augenblicken durch Unternehmungsgeist und Fleiß ausgezeichnet. Eure hohen Zedern, die das Wahrzeichen des Landes sind, rufen den florierenden Reichtum einer einzigartigen Geschichte in Erinnerung. Und sie erinnern auch daran, dass große Äste nur aus tiefen Wurzeln hervorgehen. Es mögen euch die Beispiele derer anregen, die es verstanden haben, gemeinsame Fundamente zu legen, weil sie in der Unterschiedlichkeit nicht Hindernisse, sondern Möglichkeiten erblickten. Lasst die Friedensträume eurer alten Menschen in euch Wurzeln schlagen. Niemals haben wir es so wie in diesen Monaten verstanden, dass wir uns allein nicht retten können und die Probleme der einen den anderen nicht fremd sein können. Daher appellieren wir an euch alle. An euch, Bürger: Lasst euch nicht entmutigen, verzagt nicht, findet in den Wurzeln eurer Geschichte die Hoffnung wieder, um erneut aufzukeimen. An euch, Politiker in Führungspositionen: auf dass ihr entsprechend euren Verantwortlichkeiten dringliche und solide Lösungen für die gegenwärtige wirtschaftliche, soziale und politische Krise findet, und denkt daran, dass es keinen Frieden ohne Gerechtigkeit gibt. An euch, liebe Diasporalibanesen: auf dass ihr die Energien und die besten Ressourcen, über die ihr verfügt, in den Dienst eures Heimatlandes stellt. An euch, Mitglieder der internationalen Gemeinschaft: Bemüht euch gemeinsam darum, die Bedingungen zu schaffen, damit das Land nicht versinkt, sondern einen Weg des Aufschwungs einleitet. Das wird für alle gut sein.

Gedanken des Friedens und nicht des Unheils. Als Christen wollen wir heute unseren Einsatz zum Aufbau einer gemeinsamen Zukunft erneuern, weil diese nur friedlich sein wird, wenn sie gemeinschaftlich sein wird. Die Beziehungen unter den Menschen können nicht auf der Suche nach parteiischen Interessen, Privilegien oder Gewinnen gründen.  Nein, die christliche Sicht der Gesellschaft kommt von den Seligpreisungen, sie entspringt der Milde und der Barmherzigkeit, sie führt dazu, in der Welt das Handeln Gottes nachzuahmen, der Vater ist und Eintracht unter den Kindern will. Wir Christen sind gerufen, Sämänner des Friedens und Erbauer der Geschwisterlichkeit zu sein, nicht vom Groll und dem Bedauern der Vergangenheit zu leben, nicht vor der Verantwortung der Gegenwart zu flüchten und einen Blick der Hoffnung auf die Zukunft zu pflegen. Wir glauben, dass Gott uns eine einzige Richtung für unseren Weg weist: jene des Friedens. Versichern wir daher den muslimischen Brüdern und Schwestern und der anderen Religionen Offenheit und Verfügbarkeit zur Zusammenarbeit, um die Geschwisterlichkeit aufzubauen und den Frieden zu fördern. Dieser »erfordert weder Sieger noch Besiegte, sondern Brüder und Schwestern, die trotz der Missverständnisse und Wunden der Vergangenheit den Weg vom Konflikt zur Einheit gehen« (Ansprache bei der interreligiösen Begegnung, Ebene von Ur, 6. März 2021). In diesem Sinne bringe ich den Wunsch zum Ausdruck, dass auf diesen Tag konkrete Initiativen im Zeichen des Dialogs, des Einsatzes für die Bildung und der Solidarität folgen.

Gedanken des Friedens und nicht des Unheils. Heute haben wir uns die von Hoffnung erfüllten Worte des Dichters Gibran zu eigen gemacht: Über dem dunklen Vorhang der Nacht gibt es eine Morgendämmerung, die uns erwartet. Einige junge Menschen haben uns gerade brennende Lampen überreicht. Gerade sie, die jungen Menschen, sind Lampen, die in diesen dunklen Stunden brennen. Auf ihren Gesichtern glänzt die Hoffnung der Zukunft. Sie mögen Gehör und Aufmerksamkeit finden; denn von ihnen geht der Neuanfang des Landes aus. Und schauen wir alle, bevor wir wichtige Entscheidungen treffen, auf die Hoffnungen und die Träume der jungen Menschen. Schauen wir auf die Kinder: ihre strahlenden, aber von zu vielen Tränen getränkten Augen mögen die Gewissen wachrütteln und die Entscheidungen orientieren. Weitere Lichter leuchten am Horizont des Libanon auf: Es sind die Frauen. Es kommt uns die Mutter aller in den Sinn, die vom Berg Harissa aus mit ihrem Blick all die umarmt, die vom Mittelmeer her das Land erreichen. Ihre offenen Hände richten sich auf das Meer und die Hauptstadt Beirut, um die Hoffnungen von allen entgegenzunehmen. Die Frauen sind Lebens- und Hoffnungsspenderinnen für alle; sie mögen respektiert, wertgeschätzt und in die Entscheidungsprozesse für den Libanon eingebunden werden. Und auch die älteren Menschen, die die Wurzeln sind, die älteren Menschen: Schauen wir auf sie, hören wir ihnen zu. Sie mögen uns den Sinn für die Geschichte geben, die Grundfesten des Landes legen, um weiterzukommen. Sie wollen wieder träumen können: Hören wir ihnen zu, auf dass diese Träume sich in uns zur Prophetie verwandeln.     

Wenn wir den Dichter nochmals frei wiedergeben, so erkennen wir, dass es, um zur Morgendämmerung zu gelangen, keinen anderen Weg außer der Nacht gibt. Und in der Nacht der Krise ist es notwendig, vereint zu bleiben. Gemeinsam, durch die Aufrichtigkeit des Dialogs und die Ehrlichkeit der Absicht kann man Licht in die dunklen Gegenden bringen. Vertrauen wir jede Mühe und jeden Einsatz Christus an, dem Friedensfürsten, denn, wie wir gebetet haben, „wenn sich die schattenlosen Strahlen seiner Barmherzigkeit erheben, wird die Finsternis zerstreut, endet die Dämmerung, verflüchtigt sich die Dunkelheit und die Nacht vergeht“ (vgl. Hl. Gregor von Narek, Buch der Klagelieder, 41). Brüder und Schwestern, die Nacht der Konflikte möge sich verflüchtigen und die Morgendämmerung der Hoffnung heraufziehen. Die Feindseligkeiten mögen aufhören, die Zwistigkeiten untergehen, und der Libanon strahle wieder das Licht des Friedens hinaus in die Welt.



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