APOSTOLISCHE REISE VON PAPST FRANZISKUS
ZUR ABSCHLUSSMESSE DES
52. EUCHARISTISCHEN WELTKONGRESSES IN BUDAPEST UND IN DIE SLOWAKEI
(12.-15. SEPTEMBER 2021)
BEGEGNUNG MIT DEN REPRÄSENTANTEN DES ÖKUMENISCHEN RATS DER KIRCHEN UND JÜDISCHER GEMEINSCHAFTEN UNGARNS
ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
Museum der Schönen Künste (Budapest)
Sonntag, 12. September 2021
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Liebe Brüder und Schwestern!
Ich bin sehr froh, hier bei euch zu sein. Eure Worte, für die ich euch danke, und eure Teilnahme Seite an Seite bei dieser Begegnung sind Ausdruck einer großen Sehnsucht nach Einheit. Dies alles erzählt von einem Weg, der manchmal steil und in der Vergangenheit bisweilen mühevoll war, den ihr aber mit Mut und gutem Willen auf euch nehmt, wobei ihr euch gegenseitig beisteht unter dem Blick des Allerhöchsten, der die Brüder und Schwestern segnet, die in Eintracht zusammenwohnen (vgl. Ps 133,1).
Ich schaue auf euch, Brüder und Schwestern im Glauben an Christus, und ich segne den gemeinschaftlichen Weg, den ihr immer weiter voranschreitet. Mich haben die Worte des kalvinistischen Bruders [Bischof Jószef Steinbach, Präsident des Ökumenischen Rates der Kirchen Ungarns] berührt. Danke! In Gedanken bin ich in der Abtei Pannonhalma, dem pulsierenden geistlichen Zentrum dieses Landes, wo ihr vor drei Monaten zum gemeinsamen Austausch und Beten zusammengekommen seid. Gemeinsam füreinander zu beten und sich in Liebe miteinander für diese Welt einsetzen, die Gott so sehr liebt (vgl. Joh 3,16): das ist der konkreteste Weg zur vollen Einheit.
Ich schaue auf euch, Brüder und Schwestern im Glauben unseres Vaters Abraham, und ich danke Ihnen [Rabbiner Zoltán Radnóti] für jene so tiefgründigen Worte, die mir das Herz berührt haben. Ich schätze euer Engagement und Zeugnis sehr, mit dem ihr die trennenden Mauern der Vergangenheit niederreißt. Ihr, Juden wie Christen, wollt im Anderen nicht länger einen Fremden, sondern einen Freund sehen – nicht länger einen Gegner, sondern einen Bruder und eine Schwester. Das ist die von Gott gesegnete Veränderung der Sichtweise, die Umkehr, die einen neuen Anfang ermöglicht, die Reinigung, die das Leben erneuert. Die hohen Feste Rosch Haschana und Jom Kippur, die gerade in diese Zeit fallen und zu deren Anlass ich euch die besten Wünsche ausspreche, sind Gnadenmomente, um die Wertschätzung für diese geistlichen Ereignisse zu erneuern. Der Gott der Väter eröffnet immer neue Wege: Wie er die Wüste in einen Weg ins Gelobte Land verwandelt hat, so möchte er uns aus den öden Wüsten des Grolls und der Gleichgültigkeit in die ersehnte Heimat der Gemeinschaft führen.
Es ist kein Zufall, dass diejenigen, die in der Heiligen Schrift dazu berufen sind, dem Herrn in besonderer Weise nachzufolgen, immer wieder hinausgehen, weiterziehen und unerforschte Territorien und neue Räume betreten müssen. Denken wir an Abraham, der sein Zuhause, seine Verwandtschaft und seine Heimat verließ. Wer Gott folgt, ist gerufen loszulassen. Von uns wird verlangt, das Unverständnis der Vergangenheit, die Anmaßung, selbst im Recht zu sein und dies den anderen abzusprechen, hinter uns zu lassen, um seiner Verheißung des Friedens zu folgen, denn Gott hegt immer Pläne des Heils, niemals des Unheils (vgl. Jer 29,11).
Ich möchte mit euch das suggestive Bild der Kettenbrücke aufgreifen, welche die beiden Teile dieser Stadt miteinander verbindet: Sie lässt diese nicht verschmelzen, aber hält sie zusammen. So sollen auch die Beziehungen zwischen uns sein. Wann immer die Versuchung bestand, den anderen zu absorbieren, wurde nicht aufgebaut, sondern zerstört; ebenso war es, als man die Anderen gettoisieren wollte, anstatt sie zu integrieren. Wie oft ist das in der Geschichte schon geschehen! Wir müssen wachsam sein. Wir müssen dafür beten, dass dies nicht mehr vorkommt. Und wir müssen uns gemeinsam um eine Erziehung zur Geschwisterlichkeit bemühen, damit die Hassausbrüche, die die Geschwisterlichkeit zerstören wollen, nicht die Oberhand gewinnen. Ich denke dabei an die Bedrohung durch den Antisemitismus, der immer noch in Europa und anderswo schwelt. Das ist eine Lunte, die gelöscht werden muss. Aber der beste Weg, sie unschädlich zu machen, besteht darin, positiv zusammenzuarbeiten und die Geschwisterlichkeit zu fördern. Die Brücke lehrt uns noch mehr: Sie wird von großen Ketten getragen, die aus vielen Gliedern bestehen. Diese Glieder sind wir, und jedes Glied ist von grundlegender Bedeutung. So können wir nicht länger in Misstrauen und Ignoranz leben, weit auf Distanz und entzweit.
Eine Brücke bringt zwei Teile zusammen. In diesem Sinne erinnert sie an einen Grundbegriff der Heiligen Schrift, den Begriff des Bundes. Der Gott des Bundes verlangt von uns, nicht der Logik der Isolation und der Partikularinteressen nachzugeben. Er will keine Bündnisse mit den einen auf Kosten der anderen, sondern Personen und Gemeinschaften, die Brücken der Gemeinschaft mit allen sind. An euch, den Vertretern der Mehrheitsreligionen, liegt es, in diesem Land die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Religionsfreiheit für alle respektiert und gefördert wird. Und ihr besitzt eine Vorbildfunktion für alle: Niemand soll sagen können, dass von den Lippen von Gottesmännern entzweiende Worte kommen, sondern nur Botschaften der Offenheit und des Friedens. In einer Welt, die von zu vielen Konflikten zerrissen ist, ist dies das beste Zeugnis, das diejenigen geben können, die die Gnade erhalten haben, den Gott des Bundes und des Friedens zu kennen.
Die Kettenbrücke ist nicht nur die bekannteste, sondern auch die älteste Brücke der Stadt. Viele Generationen haben sie überquert. So lädt sie uns ein, uns an die Vergangenheit zu erinnern. Da gibt es Leid und Dunkelheit, Unverständnis und Verfolgung, aber wenn wir zu den Wurzeln gehen, werden wir ein größeres gemeinsames geistiges Erbe entdecken. Dies ist der Schatz, der es uns ermöglicht, gemeinsam eine andere Zukunft zu gestalten. Ich denke auch mit Rührung an so viele Freunde Gottes, die sein Licht in den dunklen Nächten der Welt ausgestrahlt haben. Ich erwähne neben vielen anderen einen großen Dichter dieses Landes, Miklós Radnóti, dessen glanzvolle Karriere durch den blinden Hass derer beendet wurde, die ihn, nur weil er jüdischer Herkunft war, zuerst an seiner Lehrtätigkeit hinderten und ihn dann von seiner Familie wegholten.
Eingesperrt in ein Lager, in den dunkelsten und unmenschlichsten Abgrund, schrieb er bis zu seinem Tod weiter Gedichte. Seine Notizen aus Bor ist die einzige Gedichtsammlung, die den Holocaust überlebt hat. Sie zeugt von der Kraft, in der Kälte des Lagers an die Wärme der Liebe zu glauben und die Dunkelheit des Hasses mit dem Licht des Glaubens zu erhellen. Der Autor, bedrückt von den Ketten, die seine Seele umklammerten, fand in einer höheren Freiheit den Mut zu schreiben: »Als Gefangener habe ich jede Hoffnung gemessen« (Notizen aus Bor, Brief an seine Ehefrau). Und er stellte eine Frage, die auch für uns heute gilt: »Und du, wie lebst du? Findet deine Stimme in dieser Zeit Widerhall?« (Notizen aus Bor, Erste Ekloge). Unsere Stimmen, liebe Brüder und Schwestern, können nur ein Echo jenes Wortes sein, das der Himmel uns geschenkt hat, ein Echo der Hoffnung und des Friedens. Und selbst, wenn wir nicht gehört oder nicht verstanden werden, sollten wir niemals durch unser Handeln die Offenbarung leugnen, deren Zeugen wir sind.
Am Ende, in der trostlosen Einsamkeit des Lagers, als er merkte, dass das Leben dahinwelkte, schrieb Radnóti: »Auch ich bin jetzt eine Wurzel ... Ich war Blume, ich wurde zur Wurzel« (Notizen aus Bor, Wurzel). Auch wir sind aufgerufen, Wurzeln zu werden. Oft suchen wir nach den Früchten, nach Ergebnissen, nach Bestätigung. Aber der, der sein Wort in der Erde mit der gleichen Sanftheit fruchtbar macht wie der Regen, der den Acker zum Sprießen bringt (vgl. Jes 55,10), erinnert uns daran, dass unsere Glaubenswege Samen sind: Samen, die zu unterirdischen Wurzeln werden, Wurzeln, die die Erinnerung nähren und die Zukunft zum Sprießen bringen. Das ist es, was der Gott unserer Väter von uns verlangt, denn – wie ein anderer Dichter schrieb – »Und Gott wartet anderswo - wartet - ganz am Grund von Allem. Tief. Wo die Wurzeln sind« (R.M. Rilke, Wladimir, der Wolkenmaler). Man gewinnt nur dann an Höhe, wenn man in der Tiefe verwurzelt ist. Verwurzelt im Hören auf den Allerhöchsten und auf unsere Mitmenschen werden wir unseren Zeitgenossen helfen, sich gegenseitig anzunehmen und zu lieben. Nur wenn wir Wurzeln des Friedens und Sprosse der Einheit sind, werden wir in den Augen der Welt glaubwürdig sein, die auf uns blickt und sich danach sehnt, dass die Hoffnung erblüht. Vielen Dank und einen guten Weg gemeinsam, Danke! Verzeiht, dass ich im Sitzen gesprochen habe, aber ich bin keine fünfzehn Jahre alt. Danke.
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