ERÖFFNUNG DES 95. GERICHTSJAHRES DES TRIBUNALS DES STAATES DER VATIKANSTADT
ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
Segnungsaula
Samstag, 2. März 2024
Verehrte Damen und Herren, liebe Richter!
Ich freue mich, euch zur Eröffnung des 95. Gerichtsjahres des Tribunals des Staates der Vatikanstadt zu treffen und grüße euch alle sehr herzlich.
Ich danke den Vertretern der italienischen Zivil- und Militärbehörden für ihre Anwesenheit.
Mein Gruß geht an den Präsidenten des Gerichtshofs, den Vizepräsidenten und den Staatsanwalt, die Richter und Mitarbeiter der verschiedenen Abteilungen sowie die Präsidenten der Berufungsgerichte und des Obersten Gerichtshofs. Ich danke euch für euren schwierigen und anspruchsvollen Dienst, und gemeinsam mit euch danke ich dem Gendarmeriekorps für seine qualifizierte Mitarbeit.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich mit euch kurz über eine Tugend nachdenken, an die ich immer wieder erinnert werde, wenn ich die Ereignisse in der Rechtspflege verfolge, auch im Vatikanstaat: Ich spreche vom Mut.
Für Christen ist diese Tugend, die zusammen mit der Tapferkeit die Beständigkeit im Streben nach dem Guten auch in schwierigen Situationen gewährleistet und den Menschen befähigt, sich der Prüfung zu stellen, nicht nur eine besondere Charaktereigenschaft einiger heldenhaften Personen. Es handelt sich vielmehr um eine Eigenschaft, die durch die Begegnung mit Christus geschenkt und gestärkt wird, als Frucht des Wirkens des Heiligen Geistes, die jeder empfangen kann, wenn er sie erbittet. Der Mut beinhaltet eine demütige Kraft, die sich auf den Glauben und die Nähe Gottes stützt und sich in besonderer Weise in der Fähigkeit ausdrückt, mit Geduld und Ausdauer zu handeln, und die inneren und äußeren Konditionierungen, die der Verwirklichung des Guten im Wege stehen, zurückzuweisen. Dieser Mut verunsichert die Korrupten und drängt sie mit ihren verschlossenen und verhärteten Herzen sozusagen in die Ecke.
Selbst in gut organisierten, gut geregelten und von Institutionen unterstützten Gesellschaften ist persönlicher Mut erforderlich, um mit den verschiedenen Situationen umzugehen. Ohne diese gesunde Kühnheit läuft man Gefahr, zu resignieren und am Ende viele kleine und große Missstände zu vernachlässigen. Wer mutig ist, strebt nicht nach seiner eigenen Protagonistenrolle, sondern nach Solidarität mit seinen Brüdern und Schwestern, die die Last ihrer Ängste und Schwächen tragen.
Wir bewundern diesen Mut bei zahlreichen Männern und Frauen, die harte Prüfungen durchmachen: denken wir an die Opfer von Kriegen oder an diejenigen, die ständigen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind, darunter die vielen verfolgten Christen. Angesichts dieser Ungerechtigkeiten gibt uns der Geist die Kraft, nicht zu resignieren, er weckt in uns Empörung und Mut: Empörung angesichts dieser inakzeptablen Situation und Mut, um sie zu ändern.
Meine Damen und Herren, mit diesem Mut sind wir auch aufgerufen, uns den Schwierigkeiten des täglichen Lebens in Familie und Gesellschaft zu stellen, uns für die Zukunft unserer Kinder zu engagieren, für das gemeinsame Haus zu sorgen, unsere berufliche Verantwortung wahrzunehmen. Dies gilt in besonderem Maße für den Bereich, in dem ihr tätig seid, den der Rechtspflege. Denn neben den Tugenden der Klugheit und Gerechtigkeit, die von der Nächstenliebe durchdrungen sein müssen, und neben der notwendigen Tugend der Mäßigung, erfordert die Aufgabe des Urteilens auch die Tugenden der Tapferkeit und des Mutes, ohne die die Weisheit Gefahr läuft, fruchtlos zu bleiben.
Es bedarf des Mutes, bei der genauen Suche nach der Wahrheit bis auf den Grund zu gehen, und dabei zu bedenken, dass Rechtsprechung immer ein Akt der Nächstenliebe ist, eine Gelegenheit zur brüderlichen Zurechtweisung, die dem anderen helfen soll, seinen Irrtum zu erkennen. Dies gilt besonders dann, wenn ein besonders schwerwiegendes und skandalöses Verhalten festgestellt wird, das geahndet werden muss, um so mehr, wenn es innerhalb der christlichen Gemeinschaft geschieht.
Man braucht Mut, wenn man sich für ein ordnungsgemäßes Verfahren einsetzt und sich der Kritik aussetzt. Die Stärke der Institutionen und die Entschlossenheit in der Rechtsprechung zeigen sich in der Ausgewogenheit bei der Urteilsfällung, der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit derjenigen, die in den verschiedenen Stadien des Prozesses zur Beurteilung aufgerufen sind. Die beste Antwort ist Verschwiegenheit und Ernsthaftigkeit in der Arbeit, die es unseren Gerichten ermöglichen, mit Autorität und Unparteilichkeit Recht zu sprechen und dabei ein ordnungsgemäßes Verfahren zu gewährleisten, wobei die Besonderheiten des vatikanischen Rechtssystems zu beachten sind.
Schließlich braucht man den Mut, im Gebet darum zu bitten, dass das Licht des Heiligen Geistes immer die Entscheidungsfindung erhellt, die notwendig ist, um zu einem gerechten Urteil zu gelangen. Auch in diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass die Unterscheidung »auf den Knien« erfolgt, indem man die Gabe des Heiligen Geistes erbittet, um zu Entscheidungen zu gelangen, die dem Wohl des Einzelnen und der gesamten Kirchengemeinschaft dienen. In der Tat, wie es im Gesetz CCCLI über die Staatsordnung heißt, »ist die Aus-übung der Gerechtigkeit nicht nur eine zeitliche Notwendigkeit. Die Kardinaltugend der Gerechtigkeit erhellt und fasst den eigentlichen Zweck der jedem Staat eigenen richterlichen Gewalt zusammen, für deren Aus-übung in erster Linie der persönliche, hochherzige und verantwortungsvolle Einsatz der mit der rechtsprechenden Funktion betrauten Personen erforderlich ist«. Dieser Einsatz muss durch das Gebet gestützt werden. Man darf sich nicht fürchten, Zeit zu verschwenden, indem man ihm viel Zeit widmet. Und auch dies erfordert Mut und Stärke.
Liebe Richter des Tribunals und der Staatsanwaltschaft, ich wünsche euch, dass ihr in eurem Dienst an der Gerechtigkeit neben der Klugheit immer auch den christlichen Mut bewahrt. Ich bete zum Herrn, dass er diese Tugend in euch stärke. Von Herzen segne ich euch und eure Arbeit und vertraue sie der allerseligsten Jungfrau Maria an, dem Speculum iustitiae. Und bitte vergesst nicht, für mich zu beten. Danke.
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