JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 30. August 1995
1. Angesichts der zurzeit bestehenden Spaltungen zwischen den Christen könnte man versucht sein zu meinen, die Einheit der Kirche gäbe es nicht, oder sie sei nur ein schönes Ideal, das man anstreben müsse, das sich aber erst in der Eschatologie verwirklichen werde. Der Glaube jedoch sagt, dass die Einheit der Kirche nicht nur eine Hoffnung auf die Zukunft hin ist, vielmehr besteht sie schon. Jesus Christus hat nicht vergeblich um sie gebetet. Und doch hat die Einheit noch nicht ihre sichtbare Vollendung unter den Christen erreicht. Sie war im Gegenteil im Lauf der Jahrhunderte bekanntermaßen verschiedenen Schwierigkeiten und Prüfungen unterworfen.
Analog dazu muss man sagen, dass die Kirche heilig ist, dass ihre Heiligkeit aber einen ununterbrochenen Prozess der Bekehrung und der Erneuerung seitens der einzelnen Gläubigen und der Gemeinschaften erfordert. Dazu gehört auch die demütige Bitte um Vergebung für die begangene Schuld. Und weiter: Die Kirche ist katholisch, aber ihre universale Dimension muss sich immer mehr kundtun, dank der Missionstätigkeit, der Inkulturation des Glaubens und des vom Heiligen Geist geleiteten ökumenischen Bemühens, bis zur vollen Verwirklichung der göttlichen Berufung zum Glauben in Christus.
2. Das Problem des Ökumenismus besteht deshalb nicht darin, aus dem Nichts eine Einheit hervorzurufen, die noch nicht besteht, sondern unter dem Wirken des Heiligen Geistes voll und ganz jene Einheit zu leben, in der die Kirche von Christus gegründet wurde. So wird der wahre Sinn des Gebetes um die Einheit und der Sinn der Bemühungen klar, die unternommen werden, um die Verständigung zwischen den Christen zu gewährleisten. Es handelt sich nicht einfach darum, den guten Willen zusammenzutragen, um Übereinstimmungen zu schaffen, vielmehr ist es notwendig, ganz und gar die Einheit anzunehmen, die Christus gewollt hat und die der Geist beständig schenkt. Zu ihr kann man nicht einfach durch Annäherungen gelangen, über die man sich von unten her einigt, sondern jeder muss sich öffnen, um aufrichtig den Antrieb aufzunehmen, der von oben kommt, und willig dem Wirken des Heiligen Geistes Folge leisten, der die Menschen in „nur einer Herde“ unter „einem Hirten“ (vgl. Joh 10,16), Christus, dem Herrn, vereinen will.
3. Die Einheit der Kirche muss also vor allem als ein Geschenk betrachtet werden, das von oben kommt. Als Volk der Erlösten hat die Kirche eine einzigartige Struktur, die sich von jener unterscheidet, die die menschlichen Gesellschaften regelt. Diese verleihen von sich aus, wenn sie die notwendige Reife erlangt haben, und durch eigene Verfahren eine Autorität, die sie regieren und gewährleisten soll, dass alle zum Gemeinwohl zusammenwirken.
Die Kirche hingegen empfängt ihre Institution und ihre Struktur von jenem, der sie gegründet hat, Jesus Christus, dem menschgewordenen Sohn Gottes. Aus eigener Vollmacht hat er sie errichtet, indem er zwölf Männer erwählte und sie zu Aposteln, das heißt Gesandten, bestellte, damit sie in seinem Namen sein Werk fortsetzten. Unter diesen Zwölfen hat er einen, den Apostel Petrus, erwählt, zu dem er gesagt hat: „Simon … ich habe für dich gebetet … Und wenn du dich wieder bekehrt hast, dann stärke deine Brüder“ (Lk 22,31–32).
Petrus ist also einer der Zwölf mit den Aufgaben der anderen Apostel. Christus hat ihm jedoch noch einen weiteren Auftrag anvertrauen wollen: nämlich den, die Brüder im Glauben und im Eifer der gegenseitigen Liebe zu stärken. Der Dienst des Nachfolgers Petri ist ein Geschenk, das Christus seiner Braut gemacht hat, damit zu jeder Zeit die Einheit des ganzen Volkes Gottes bewahrt und gefördert werde. Der Bischof von Rom ist darum der Diener der Diener Gottes, von Gott bestellt als „das immerwährende, sichtbare Prinzip und Fundament für die Einheit“ (Lumen Gentium, Nr. 23; vgl. Ut unum sint, Nr. 88–96).
4. Die Einheit der Kirche wird nicht voll in Erscheinung treten, solange die Christen sich nicht diesen Willen Christi zu eigen machen und unter den Gnadengaben auch die Autorität annehmen, die er den Aposteln verliehen hat – jene Autorität, die heute von den Bischöfen, ihren Nachfolgern, in Gemeinschaft mit dem Dienst des Bischofs von Rom, des Nachfolgers Petri, ausgeübt wird. Jene Einheit aller Gläubigen in Christus, um die er inständig gebetet hat, ist berufen, auf der sichtbaren Ebene sich durch die Macht des Heiligen Geistes rings um diesen von Gott gegründeten „Abendmahlssaal der Apostolizität“ zu verwirklichen.
Es würde nicht mit der Schrift und der Überlieferung übereinstimmen, in der Kirche einen Autoritätstyp nach dem Muster der politischen Ordnungen anzunehmen, die sich im Lauf der Geschichte der Menschheit entwickelt haben. Im Gegenteil! Von dem ins Apostelkollegium Berufenen wird verlangt, zu dienen, gerade so wie Christus, der im Saal in Jerusalem das Letzte Abendmahl damit begann, dass er den Aposteln die Füße wusch. „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben“ (Mk 10,45). Dem Volke Gottes zu dienen, damit alle ein Herz und eine Seele seien!
5. Das ist die Grundlage der Struktur der Kirche. Aber die Geschichte erinnert uns daran, dass dieser Dienst im Gedächtnis der Christen der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften schmerzliche Erinnerungen hinterlassen hat, die gereinigt werden müssen. Die menschliche Schwäche des Petrus (vgl. Mt 16,23), des Paulus (vgl. 2 Kor 12,9–10) und der Apostel lässt den Wert der Barmherzigkeit Gottes und der Macht seiner Gnade umso mehr hervortreten.
Die Überlieferungen des Evangeliums lehren uns in der Tat, dass es gerade diese Macht der Gnade ist, die die zur Nachfolge des Herrn Berufenen umwandelt und sie eins macht in ihm. Das Dienstamt des Petrus und seiner Nachfolger innerhalb des Kollegiums der Apostel und ihrer Nachfolger ist „ein Dienst der Barmherzigkeit, geboren aus einem Barmherzigkeitsakt Christi“ (Ut unum sint, Nr. 93).
Der Gute Hirte hat gewollt, dass die Jahrhunderte hindurch seine Stimme der Wahrheit von der ganzen Herde gehört werde, die er sich durch sein Opfer erworben hat. Aus diesem Grunde hat er den Elf mit Petrus an der Spitze und ihren Nachfolgern die Sendung vermacht, darüber zu wachen, dass in jeder der ihnen anvertrauten Teilkirchen die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche sich verwirkliche. In der Gemeinschaft der Hirten mit dem Bischof von Rom verwirklicht sich also das Zeugnis für die Wahrheit, das auch Dienst an der Einheit ist, in welchem die Rolle des Nachfolgers Petri einen ganz besonderen Platz hat.
6. Wie sollten wir im heraufsteigenden Morgen des neuen Jahrtausends nicht für alle Christen die Gnade jener Einheit erflehen, die ihnen von Jesus, dem Herrn, zu einem so hohen Preis erkauft wurde?
Die Einheit des Glaubens in der Treue zur offenbarten Wahrheit; die Einheit der Hoffnung auf dem Weg zur Vollendung des Gottesreiches; die Einheit der Liebe in ihrer Vielgestaltigkeit und der vielfältigen Anwendung in allen Bereichen des menschlichen Lebens. In dieser Einheit können alle Konflikte eine Lösung und alle getrennten Christen ihre Versöhnung finden, um an das Ziel der vollen und sichtbaren Gemeinschaft zu gelangen.
„Wenn wir uns fragen wollten, ob denn das alles möglich sei, würde die Antwort immer lauten: ja. Dieselbe Antwort, die von Maria von Nazaret zu hören war, denn bei Gott ist kein Ding unmöglich“ (Ut unum sint, Nr. 102). Zum Abschluss dieses Zyklus der Katechese kommt uns die Aufforderung des Apostels Paulus in den Sinn: „Vervollkommnet euch, lasst euch ermahnen, seid eines Sinnes und lebt in Frieden!
Dann wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein. (…) Die Gnade Jesu Christi, des Herrn, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!“ (2 Kor 13,11.13). Amen.
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Mit diesen Gedanken grüße ich euch alle, liebe deutschsprachige Pilger und Besucher, sehr herzlich. Euch, euren lieben Angehörigen und Freunden in der Heimat sowie allen, die uns im Anliegen um die Einheit der Kirche Christi verbunden sind, erteile ich von Herzen meinen Apostolischen Segen.
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Die ganze katholische Kirche ist euch immer nahe.
Liebe Pilger aus Kroatien und aus Bosnien-Herzegowina, ich grüße euch alle. Seid willkommen!
Die schrecklichen Bilder des jüngsten Massakers in Sarajevo bewegen das Herz jedes Menschen guten Willens und lassen die ungeheure Tragödie wahrnehmen, die in euren Regionen von dem grausamen, noch andauernden Krieg hervorgerufen wurde.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich allen, die in verschiedener Weise durch den blutigen Krieg in Bosnien-Herzegowina und in Kroatien leiden, meine Nähe und die Nähe der ganzen katholischen Kirche erneut bestätigen: denen, die ihre tragisch ums Leben gekommenen oder vermissten Angehörigen beweinen, den Gefangenen, den Vertriebenen und den Flüchtlingen, den auseinandergerissenen Familien und allen, die sich in einer beschwerlichen Lage befinden. Beten wir miteinander, meine Lieben, dass Liebe und Vergebung siegen mögen, sodass die Menschen und Völker eine sichere und würdevolle Zukunft haben können, die ihren edlen, jahrhundertealten Traditionen und ihren berechtigten Erwartungen entspricht!
Trotz der ernsten Situation fordere ich euch alle auf, mit Vertrauen und Hoffnung in die Zukunft zu blicken, denn „Gott ist auf der Seite der Zerschlagenen“ (Predigt vom 8. September 1994; in: O.R. dt. 16.9.94, S. 24). Diese nicht leichten Zeiten mögen für jeden von euch auch eine Gelegenheit zu menschlicher und religiöser Reifung sein, damit ihr unter der Führung eurer eifrigen und verdienstvollen Bischöfe und Priester von neuem eine lebendige katholische Gemeinschaft aufbauen könnt, die treu und mutig das Evangelium Christi bezeugt.
Von Herzen erteile ich euch hier Anwesenden und euren Angehörigen den Apostolischen Segen. Gelobt seien Jesus und Maria!
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