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JOHANNES PAUL II.

GENERALAUDIENZ

Mittwoch, 8. November 1995

1. In den vorhergegangenen Katechesen sahen wir, wie die Lehre von der Mutterschaft Marias von der ersten Formulierung „die Mutter Jesu“ zur umfassenderen und klareren Bezeichnung „Mutter Gottes“ und dann zur Bestätigung ihrer mütterlichen Mitwirkung bei der Erlösung der Menschheit übergegangen ist.

Auch in Bezug auf andere Aspekte der marianischen Lehre waren viele Jahrhunderte notwendig, um zur deutlichen Definition der über Maria offenbarten Wahrheiten zu gelangen. Einzigartige Geschehen dieses Glaubensweges zu einem immer tieferen Verständnis der Rolle Marias in der Heilsgeschichte sind die Dogmen von der Unbefleckten Empfängnis und von der leiblichen Aufnahme in den Himmel, die bekanntlich von zwei meiner ehrwürdigen Vorgänger, und zwar von dem Diener Gottes Pius IX. im Jahr 1854 und dem Diener Gottes Pius XII. im Verlauf des Heiligen Jahres 1950, verkündet wurden.

Die Mariologie ist ein besonderes theologisches Forschungsgebiet, auf dem die Liebe des christlichen Volkes zu Maria nicht selten einige Aspekte des Geheimnisses der Jungfrau vorausgeahnt und die Aufmerksamkeit der Theologen und der Hirten auf sie gelenkt hat.

2. Wir müssen zugeben, dass die Evangelien auf den ersten Blick wenig Informationen über die Person und das Leben Marias bieten. Wir hätten uns gewiss über sie mehr Hinweise gewünscht, die uns erlaubten, die Mutter Jesu besser zu kennen. Diese Erwartung wird auch von Seiten der anderen Schriften des Neuen Testaments nicht erfüllt, wo eine ausdrückliche Lehraussage über Maria fehlt. Selbst die Briefe des hl. Paulus, die uns eine reiche Lehre über Christus und sein Werk bieten, beschränken sich in einem sehr bedeutsamen Abschnitt auf die Aussage, dass Gott seinen Sohn sandte, „geboren von einer Frau“ (Gal 4,4).

Über Marias Familie wird sehr wenig berichtet. Wenn wir die Kindheitserzählungen ausschließen, finden wir in den synoptischen Evangelien nur zwei Hinweise, die etwas Licht auf Maria werfen: einen in Bezug auf den Versuch der „Brüder“ oder Angehörigen, die Jesus nach Nazaret zurückholen wollten (vgl. Mk 3,21; Mt 12,48), den anderen als Antwort auf den Ausruf einer Frau und die Seligpreisung der Mutter Jesu (vgl. Lk 11,27).

Trotzdem liefert Lukas im Kindheitsevangelium mit den Erzählungen über die Verkündigung, die Heimsuchung, die Geburt Jesu, die Darstellung des Kindes im Tempel und die Wiederauffindung des zwölfjährigen Jesus unter den Schriftgelehrten nicht nur einige wichtige Daten, sondern legt eine Art „Protomarialogie“ von grundlegender Bedeutung vor. Seine Angaben werden indirekt von Matthäus in der Erzählung über die Ankündigung an Josef (1,18-25), aber nur in Bezug auf die jungfräuliche Empfängnis Jesu vervollständigt.

Das Johannesevangelium vertieft dazu die heilsgeschichtliche Bedeutung der Rolle der Mutter Jesu, wenn es ihre Anwesenheit zu Beginn und am Ende des öffentlichen Lebens angibt. Besonders bedeutsam ist Marias Mitwirkung unter dem Kreuz, wo sie von dem sterbenden Sohn den Auftrag erhält, dem Lieblingsjünger und in ihm allen Christen Mutter zu sein (vgl. Joh 2,1-12 und Joh 19,25-27).

Die Apostelgeschichte nennt die Mutter Jesu dann ausdrücklich unter den Frauen der ersten Gemeinde in Erwartung von Pfingsten (vgl. Apg 1,14).

Nichts wissen wir hingegen – es fehlen weitere neutestamentliche Zeugnisse und sichere Nachrichten aus Geschichtsquellen – über Marias Leben nach dem Pfingstereignis noch über den Zeitpunkt und die Umstände ihres Todes. Wir dürfen nur vermuten, dass sie weiter bei dem Apostel Johannes wohnte und mit der Entfaltung der jungen Christengemeinde eng verbunden war.

3. Das Fehlen von Angaben über Marias Leben auf Erden wird durch theologischen Gehalt und Reichtum ausgeglichen, die die heutige Exegese aufmerksam ins Licht stellt.

Im Übrigen müssen wir bedenken, dass der Ausblick der Evangelisten vollkommen christologisch ist und sich für die Mutter nur in Bezug auf die Frohe Botschaft des Sohnes interessiert. Wie schon der hl. Ambrosius sagt, hat der Evangelist, indem er das Geheimnis der Menschwerdung darlegte, es für richtig gehalten, „nicht weiter den Nachweis der Jungfräulichkeit Marias führen zu sollen, um nicht mehr als Anwalt der Jungfrau denn als Verteidiger jenes Geheimnisses angesehen zu werden“ (Exp. in Lucam, 1,6: PL 15, 1555; in: Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 21, Kempten/München 1915, S. 52).

Wir können in dieser Tatsache eine besondere Absicht des Heiligen Geistes erkennen, der in der Kirche einen Forschungsdrang hervorrufen wollte, der die zentrale Stellung des Geheimnisses Christi bewahrte und sich nicht in Einzelheiten über Marias Leben verlor, sondern vor allem darauf abzielte, ihre Rolle im Heilswerk, ihre persönliche Heiligkeit und ihre mütterliche Sendung im christlichen Leben zu entdecken.

4. Der Heilige Geist leitet die Anstrengungen der Kirche, indem er sie drängt, dieselben Haltungen Marias einzunehmen. Lukas gibt in der Erzählung über die Geburt Jesu an, wie seine Mutter alles „in ihrem Herzen bewahrte und darüber nachdachte“ (vgl. Lk 2,19), indem sie sich bemühte, alle Ereignisse, deren bevorzugte Zeugin sie gewesen war, durch eine vertiefte Einsicht „zusammenzusetzen“ (sym-balloūsa).

In ähnlicher Weise wird das Volk Gottes von dem gleichen Geist gedrängt, alles, was von Maria gesagt wurde, tiefer zu erfassen, um im Verständnis ihrer Sendung zu wachsen, die eng mit dem Geheimnis Christi verbunden ist.

In der Entwicklung der Mariologie wird eine besondere Rolle des christlichen Volkes deutlich. Durch die Bekräftigung und das Zeugnis seines Glaubens wirkt es an der Entfaltung der marianischen Lehre mit, die normalerweise nicht nur das Werk von Theologen ist, wenn auch deren Aufgabe für die Vertiefung und klare Darlegung der Glaubensaussage und der christlichen Erfahrung selbst unerlässlich ist.

Der Glaube der einfachen Menschen wird von Jesus bewundert und gelobt, der in ihm eine wunderbare Offenbarung der Güte des Vaters erkennt (vgl. Mt 11,25; Lk 10,21). Er fährt fort, im Laufe der Jahrhunderte die Wundertaten der Heilsgeschichte zu verkünden, die den Weisen verborgen sind. Im Einklang mit der Einfachheit der Jungfrau ließ dieser Glaube die Erkenntnis ihrer persönlichen Heiligkeit und des über die Natur hinausgehenden Wertes ihrer Mutterschaft weiterwachsen. Das Geheimnis Marias verpflichtet jeden Christen, in Gemeinschaft mit der Kirche das, was das Evangelium über die Mutter Christi offenbart und bekräftigt, „in seinem Herzen zu bewahren und darüber nachzudenken“. In der Logik des Magnifikats wird jeder in der Nachfolge Marias an sich selbst die Liebe Gottes erfahren und in den großen Taten, die die Heiligste Dreifaltigkeit an der Jungfrau „voll der Gnade“ vollbracht hat, ein Zeichen der Liebe Gottes zu den Menschen erkennen.

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Liebe Schwestern und Brüder!

Nach dieser Betrachtung grüße ich Euch, liebe Schwestern und Brüder aus den deutschsprachigen Ländern, ganz herzlich. Unter Euch begrüße ich insbesondere die Pilgergruppe der Marianischen Männerkongregation am Bürgersaal zu München, die anlälich des 50. Jahrestages des Todes von Pater Rupert Mayer nach Rom gekommen ist, und die Professoren der Katholischen Universität Eichstätt. Euch, Euren Angehörigen und allen, die mit uns über Radio oder Fernsehen verbunden sind, erteile ich von Herzen meinen Apostolischen Segen.