JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 5. Dezember 2001
Psalm 118, Ein Freuden- und Siegesgesang
1. Wenn der Christ im Einklang mit der betenden Stimme Israels den Psalm 118 singt, den wir soeben gehört haben, spürt er in seinem Innern eine besondere Emotion, denn er findet in diesem stark liturgisch geprägten Hymnus zwei Sätze, die im Neuen Testament mit neuem Klang widerhallen werden. Mit dem ersten Satz ist Vers 22 gemeint: »Der Stein, den die Bauleute verwarfen, er ist zum Eckstein geworden.« Diese Worte zitiert Jesus, nachdem er das Gleichnis mit den bösen Winzern erzählt hat, und er wendet sie auf seine Sendung des Todes und der Herrlichkeit an (vgl. Mt 21, 42). Sie werden auch von Petrus in der Apostelgeschichte wiederaufgenommen: »Er (Jesus) ist der Stein, der von euch Bauleuten verworfen wurde, der aber zum Eckstein geworden ist. Und in keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen « (Apg 4, 11 –12). Cyrill von Jerusalem merkt hierzu an: »Wir reden von ›einem‹ Herrn Jesus Christus, damit eins sei die Sohnschaft. Von ›einem‹ reden wir, damit du nicht noch einen anderen Sohn annimmst […] Christus wird als ›Stein‹ bezeichnet. Nicht ist er ein lebloser, von Menschenhänden gehauener Stein; er ist ein Eckstein, und wer auf diesen vertraut, wird nicht zuschanden werden« (X. Katechese an die Täuflinge, 3; aus: BKV, Bd. 41, 1922).
Der zweite Satz, den das Neue Testament aus dem Psalm 118 übernimmt, wird von der Menschenmenge beim feierlichen messianischen Einzug Christi in Jerusalem verkündet: »Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn!« (Mt 21, 9; vgl. Ps 118, 26). Die Akklamation wird durch das »Hosanna« eingerahmt, das an die hebräische Anrufung hoshia’na’– »rette uns!« – anknüpft. .
2. Dieser wundervolle biblische Hymnus gehört zu der kleinen Psalmensammlung – vom 113. bis zum 118. Psalm –, der als »österliches Hallel« bezeichnet wird; es handelt sich also um das Psalmenlob, das im jüdischen Gottesdienst für das Paschafest und auch für die Hauptfeste des liturgischen Jahres verwendet wurde. Als Leitfaden des Psalms 118 kann der Prozessionsritus betrachtet werden, der wahrscheinlich von Gesängen für einen Solisten und einen Chor untermalt wurde, vor dem Hintergrund der Heiligen Stadt und ihres Tempels. Eine schöne Antiphon eröffnet und beschließt den Text: »Danket dem Herrn, denn er ist gütig, denn seine Huld währt ewig« (V. 1. 29).
Das Wort »Huld« übersetzt hier den hebräischen Begriff hesed, der die großzügige Treue Gottes gegenüber seinem verbündeten und befreundeten Volk zum Ausdruck bringt. In den Lobpreis dieser Treue werden drei Kategorien von Menschen einbezogen: das gesamte Volk Israel, das »Haus Aaron«, das heißt die Priester, und all jene, »die den Herrn fürchten«. Dieser Ausdruck steht für die Gläubigen und später auch die Proselyten, also die Mitglieder anderer Nationen, die sich zum Gesetz des Herrn bekehren möchten (vgl. V. 2–4).
3. Die Prozession scheint durch die Straßen Jerusalems zu ziehen, denn es ist von den »Zelten der Gerechten« die Rede (vgl. V. 15). Auf jeden Fall wird ein Dankeshymnus gebetet (vgl. V. 5 –18), dessen Botschaft sich aufs Wesentliche beschränkt: Auch in Stunden der Verzweiflung muß man die Fackel des Vertrauens hochhalten, denn die mächtige Hand des Herrn führt seine Gläubigen zum Sieg über das Böse und zum Heil.
Der heilige Verfasser benutzt eindrucksvolle und lebhafte Bilder: Die grausamen Gegner werden mit einem Bienenschwarm oder mit einer Flammenwand, die sich ausbreitet und alles zu Asche macht, verglichen (vgl. V. 12). Aber die Reaktion des Gerechten, der vom Herrn unterstützt wird, ist heftig. Dreimal wird wiederholt: »…ich wehre sie ab im Namen des Herrn« (V. 10. 11. 12 ), und das hebräische Verb bezeichnet ein zerstörerisches Eingreifen gegen das Böse. Ausgangsbasis ist nämlich die starke Rechte Gottes, also sein wirksames Handeln, und gewiß nicht die schwache und unsichere Hand des Menschen. Aus diesem Grund führt die Freude über den Sieg über das Böse zu einem eindrucksvollen Glaubensbekenntnis: »Meine Stärke und mein Lied ist der Herr; er ist für mich zum Retter geworden« (V. 14).
4. Die Prozession scheint beim Tempel, bei den »Toren zur Gerechtigkeit« (vgl. V. 19), das heißt bei der heiligen Pforte Zions, angelangt zu sein. Hier wird ein zweiter Dankesgesang angestimmt; er beginnt mit einem Dialog zwischen der Gemeinde und den Priestern, um zum Gottesdienst zugelassen zu werden. »Öffnet mir die Tore zur Gerechtigkeit, damit ich eintrete, um dem Herrn zu danken«, sagt der Solist im Namen der Prozessionsversammlung. »Das ist das Tor zum Herrn, nur Gerechte treten hier ein« (V. 19 –20), antworten andere, wahrscheinlich die Priester.
Nachdem man eingetreten ist, wird die Stimme zu einer Dankeshymne an den Herrn erhoben, denn er bietet sich im Tempel als fester und sicherer »Stein« an, auf dem man das Haus des Lebens bauen kann (vgl. Mt 7, 24–25). Ein priesterlicher Segen kommt auf die Gläubigen herab, die in den Tempel gegangen sind, um ihren Glauben zu bekennen, ihr Gebet zu verrichten und den Gottesdienst zu feiern.
5. Die letzte Szene, die sich vor unseren Augen abspielt, besteht aus einem freudigen Ritus heiliger Tänze, begleitet vom festlichen Schwingen der Zweige: »Mit Zweigen in den Händen schließt euch zusammen zum Reigen, bis zu den Hörnern des Altars« (V. 27). Die Liturgie ist Freude, festliche Begegnung, Ausdruck des gesamten Daseins, das den Herrn lobt. Die Zeremonie der Zweige läßt an das jüdische Laubhüttenfest denken, den Tag des Gedenkens an den Pilgerweg Israels durch die Wüste: Zu diesem Fest wurde eine Prozession mit Palmen, Myrten und Weidenzweigen unternommen.
Der gleiche Ritus, von dem im Psalm die Rede ist, bietet sich dem Christen beim Einzug Jesu in Jerusalem, der in der Palmsonntagsliturgie gefeiert wird. Christus wird als »Sohn Davids« gepriesen (vgl. Mt 21, 9) von der Volksmenge, »die sich zum Fest eingefunden hatte […] Da nahmen sie Palmzweige, zogen hinaus, um ihn zu empfangen, und riefen: Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn, der König Israels! (Joh 12, 12 –13). In jener freudigen Stunde, die aber auch das Leiden und den Tod Jesu einleitet, verwirklicht sich und wird der volle Sinn des zu Beginn angeführten Symbols des Ecksteins verständlich, der damit eine glorreiche und österliche Bedeutung annimmt.
Der Psalm 118 ermutigt die Christen, im Osterereignis Jesu jenen Tag zu erkennen, »den der Herr gemacht hat« (V. 24) und an dem »der Stein, den die Bauleute verworfen haben, zum Eckstein geworden ist« (vgl. V. 22). Mit dem Psalm können sie daher voller Dankbarkeit singen: »Meine Stärke und mein Lied ist der Herr;er ist für mich zum Retter geworden« (V. 14). »Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat;wir wollen jubeln und uns an ihm freuen« (V. 24).
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Liebe Schwestern und Brüder!
Der Psalm, den wir heute gehört haben, rührt unsere Herzen an. Mancher Vers trägt eine solche Schwere an Bedeutung in sich, daß er uns nicht kalt lassen kann.
Da ist zuerst der Jubelruf: "Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, er ist zum Eckstein geworden". An einem Stein kann man sich stoßen, an einen Stein kann man sich aber auch klammern, um festen Stand und sicheren Tritt zu finden. Für uns Christen ist Jesus ein solcher Haltegriff. Er ist zum Eckstein des Lebens geworden.
Deshalb nimmt es nicht Wunder, daß wir ihn mit "Hosianna" willkommen heißen: "Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn". In der Tat: Jesus Christus ist die Tür zum Leben. Durch sie treten die Gerechten ins wahre Leben ein.
Nicht nur am Palmsonntag, sondern auch im Advent hat dieser Prozessionspsalm seinen besonderen Platz. "Macht hoch die Tür, die Tor' macht weit! Es kommt der Herr der Herrlichkeit!".
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Ganz herzlich begrüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Die Zeit vor Weihnachten lädt euch ein, die Türen eures Herzens für das Kommen des Herrn zu öffnen. Mit diesem Wunsch erteile ich euch, euren Lieben daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, den Apostolischen Segen.
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