JOHANNES PAUL II.
GENERALAUDIENZ
Mittwoch, 19. November 2003
Lesung: Brief an die Philipper 2,6–11
6 Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein,
7 sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen;
8 er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.
9 Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, 10 damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu 11 und jeder Mund bekennt: »Jesus Christus ist der Herr« – zur Ehre Gottes, des Vaters.
Liebe Brüder und Schwestern!
1. Die Liturgie der Vesper umfaßt neben den Psalmen auch einige biblische Gesänge. Der soeben vorgetragene ist sicher einer der bezeichnendsten und in theologischer Hinsicht bedeutungsreichsten. Es handelt sich um einen Hymnus, der in das 2. Kapitel des Briefes des Apostels Paulus an die Christen in Philippi eingefügt ist, der griechischen Stadt, die die erste Etappe auf der Missionsreise des Apostels in Europa war. Das Canticum wird als Ausdruck der frühesten christlichen Liturgie angesehen, und es ist eine Freude für unsere Generation, sich dem Gebet der apostolischen Kirche 2000 Jahre danach anschließen zu können.
Das Canticum weist eine zweifache vertikale Richtung auf, eine zuerst absteigende und dann aufsteigende Bewegung. Denn auf der einen Seite ist der demütigende Abstieg des Sohnes Gottes, der durch die Inkarnation Mensch wird aus Liebe zu den Menschen. Er fällt in die »kenosis «, das heißt in die »Entäußerung« seiner göttlichen Herrlichkeit, die bis zum Tod am Kreuz reicht – der den Sklaven vorbehaltenen Hinrichtungsart –, was ihn zum Letzten der Menschen gemacht hat, zum wahren Bruder der leidenden, sündigen und verstoßenen Menschheit.
2. Auf der anderen Seite ist der siegreiche Aufstieg, der sich an Ostern vollzieht, wenn Christus vom Vater im Glanz der Gottheit wiederhergestellt wird und vom ganzen Kosmos und allen nunmehr geretteten Menschen als Herrscher des Alls gefeiert wird. Wir haben also eine neue großartige Lesart des Christus-Geheimnisses, vor allem des österlichen, vor uns. Paulus verkündet nicht nur die Auferstehung (vgl. 1 Kor 15,3–5), er bezeichnet das Ostern Christi auch als »Erhöhung «, »Erhebung«, »Verherrlichung«.
Der Sohn Gottes hat also, vom leuchtenden Horizont der göttlichen Transzendenz ausgehend, die unendliche Distanz überwunden, die zwischen Schöpfer und Geschöpf liegt. Er hat sich nicht, wie an eine Beute, an sein »Wie-Gott- Sein« geklammert, das ihm von Natur her und nicht durch eigenes Zutun zusteht. Er wollte dieses Vorrecht nicht wie einen Schatz eifersüchtig hüten, es ebensowenig zum eigenen Vorteil nutzen. Nein, Christus »entäußerte«, »erniedrigte « sich und erschien arm, schwach, zum schändlichen Tod durch Kreuzigung bestimmt. Gerade mit dieser tiefsten Erniedrigung beginnt die großartige aufsteigende Bewegung, die im zweiten Teil des paulinischen Hymnus beschrieben wird (vgl. Phil 2,9–11).
3. Gott »erhöht« nun seinen Sohn, indem er ihm einen ruhmvollen »Namen« gibt, der in der biblischen Sprache die Person und ihre Würde anzeigt. Und dieser »Name« ist »Kyrios«, »Herr«: Der heilige Name des Gottes der Bibel wird jetzt auf den auferstandenen Christus angewandt. Er versetzt das Universum, das in drei Teilen – Himmel, Erde und unter der Erde – beschrieben wird, in eine Haltung der Anbetung.
So erscheint der verherrlichte Christus am Ende des Hymnus als der »Pantokrator«, das heißt als der allmächtige Herr, der in der Apsis der frühchristlichen und byzantinischen Basiliken thront. Er trägt noch die Zeichen des Leidens, das heißt seiner wahren Menschheit, aber er offenbart sich jetzt im Glanz der Gottheit. Christus, uns nahe im Leiden und im Tod, zieht uns jetzt zu sich in die Herrlichkeit, indem er uns segnet und an seiner Ewigkeit teilhaben läßt.
4. Wir beenden unsere Betrachtung über den paulinischen Hymnus, indem wir die Worte des hl. Ambrosius übernehmen, der das Bild Christi beschreibt, der »sich entäußerte«, indem er sich in der Menschwerdung und im Selbstopfer am Kreuz erniedrigte und gleichsam auslöschte (exinanivit semetipsum).
In seinem Kommentar über Psalm 119 sagte der Bischof von Mailand folgendes: »Christus, der am Kreuzesstamm hing, wurde von der Lanze durchbohrt, Blut und Wasser flossen heraus, süßer als jeder Balsam, während das Gott wohlgefällige Opfer den Wohlgeruch der Heiligung in der ganzen Welt verbreitete … Der durchbohrte Jesus verbreitete den Wohlgeruch der Vergebung der Sünden und der Erlösung. In der Tat, ihm, dem göttlichen Wort, das Mensch geworden war, wurden enge Grenzen gesetzt. Er wurde euretwegen arm, obwohl er reich war, um uns durch seine Armut reich zu machen (vgl. 2 Kor 8,9); er war mächtig, und er hat sich als erbärmlicher Mensch gezeigt, so daß ihn Herodes verachtete und verspottete; er konnte die Erde erschüttern, und doch blieb er am Kreuzesstamm angeheftet; er verschloß den Himmel in einer tiefen Finsternis, er kreuzigte die Welt, und doch wurde er gekreuzigt; er neigte das Haupt, und doch ging das göttliche Wort daraus hervor; er wurde vernichtet und erfüllte doch alles. Gott ist herabgestiegen, der Mensch ist aufgestiegen; das göttliche Wort ist Fleisch geworden, damit das Fleisch den Thron des Wortes zur Rechten Gottes für sich beanspruchen kann; er war voller Wunden, und doch floß Balsam aus ihm hervor; er schien verachtenswert, und doch bekannte er sich als Gott« (III,8, SAEMO IX, Milano/Roma 1987, Ss. 131.133).
Unter den biblischen Gesängen der Vesperliturgie ragt der Christus-Hymnus aus dem Brief an die Philipper heraus. In großer theologischer Dichte bringt er das Mysterium der Erniedrigung und der Erhöhung des Herrn ins Wort. Dieses Lied aus apostolischer Zeit gehört zum festen Gebetsschatz der Kirche.
Gott hat Jesus nach seinem Opfertod am Kreuz „über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen" (Phil 2, 9): In der Auferstehung ist Christus als Kyrios und Pantokrator, als Herr des Himmels und der Erde erschienen. Ihm gebühren Anbetung und Ehre seitens aller Wesen!
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Von Herzen grüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. „Jesus Christus ist der Herr – zur Ehre Gottes, des Vaters!" (Phil 2, 11). Vor dem Namen Jesu wollen wir die Knie beugen. Er ist unser Heil. Seine Gnade leite euch; sein Segen komme über euch!
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