1994 - JAHR DER FAMILIE
BRIEF PAPST JOHANNES PAULS II.
AN DIE FAMILIEN
GRATISSIMAM SANE
Liebe Familien!
1. Die Feier des Jahres der Familie bietet mir die willkommene Gelegenheit, an die Tür eures Hauses zu klopfen mit dem Wunsch, euch sehr herzlich zu grüßen und mich bei euch aufzuhalten. Ich tue das mit diesem Schreiben, wobei ich von den Worten der Enzyklika Redemptor hominis ausgehe, die ich in den ersten Tagen meines Petrusamtes veröffentlicht habe. Ich schrieb damals: Der Mensch ist der Weg der Kirche (Redemptor hominis, 14).
Mit dieser Formulierung wollte ich zunächst auf die vielfältigen Wege Bezug nehmen, die der Mensch entlanggeht, und zugleich wollte ich unterstreichen, wie lebhaft und groß der Wunsch der Kirche ist, ihn beim Durchlaufen dieser Wege seiner irdischen Existenz zu begleiten. Die Kirche nimmt an den Freuden und Hoffnungen, an der Trauer und an den Ängsten (Gaudium et spes, 1) des täglichen Lebens der Menschen teil, weil sie zutiefst davon überzeugt ist, dass Christus selbst sie in alle diese Wege eingeweiht hat: Er hat den Menschen der Kirche anvertraut; Er hat ihn ihr anvertraut als „Weg“ ihrer Sendung und ihres Dienstes.
Die Familie – Weg der Kirche
2. Unter diesen zahlreichen Wegen ist die Familie der erste und der wichtigste. Ein gemeinsamer Weg und doch ein eigener, einzigartiger und unwiederholbarer Weg, so wie jeder Mensch unwiederholbar ist; ein Weg, von dem kein Mensch sich lossagen kann. In der Tat kommt er normalerweise innerhalb einer Familie zur Welt, weshalb man sagen kann, dass er ihr seine Existenz als Mensch verdankt. Fehlt die Familie, so entsteht in der Person, die in die Welt eintritt, eine bedenkliche und schmerzliche Lücke, die in der Folge auf dem ganzen Leben lasten wird. Mit herzlich empfundener Fürsorge ist die Kirche denen nahe, die in solchen Situationen leben, weil sie um die grundlegende Rolle weiß, die die Familie zu spielen berufen ist. Sie weiß darüber hinaus, dass der Mensch normalerweise seine Familie verlässt, um seinerseits in einem neuen Familienkern die eigene Lebensberufung zu verwirklichen. Selbst wenn er sich für das Alleinbleiben entscheidet, bleibt die Familie als jene fundamentale Gemeinschaft, in der das gesamte Netz seiner sozialen Beziehungen, von den unmittelbarsten und naheliegenden bis hin zu den entferntesten, verwurzelt ist, so etwas wie sein existentieller Horizont. Sprechen wir etwa nicht von der „Menschheitsfamilie“, wenn wir auf die Gesamtheit der auf der Welt lebenden Menschen Bezug nehmen?
Die Familie hat ihren Ursprung in derselben Liebe, mit der der Schöpfer die geschaffene Welt umfängt, wie es schon »am Anfang« im Buch Genesis (1,1) ausgesprochen wurde. Eine letzte Bestätigung dafür bietet uns Jesus im Evangelium: »Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab« (Joh 3,16). Der mit dem Vater wesensgleiche einzige Sohn, »Gott von Gott und Licht vom Licht«, ist durch die Familie in die Geschichte der Menschen eingetreten: »Durch die Menschwerdung hat sich der Sohn Gottes gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt. Mit Menschenhänden hat er gearbeitet, ... mit einem menschlichen Herzen geliebt. Geboren aus Maria, der Jungfrau, ist er in Wahrheit einer aus uns geworden, in allem uns gleich außer der Sünde« (Gaudium et spes, 22). Wenn daher Christus »dem Menschen den Menschen selbst voll kundmacht«[ebd.], tut er das, angefangen von der Familie, in die er hineingeboren werden und in der er aufwachsen wollte. Wie man weiß, hat der Erlöser einen großen Teil seines Lebens in der Zurückgezogenheit von Nazaret verbracht, als „Menschensohn“ seiner Mutter Maria und Josef, dem Zimmermann, »gehorsam« (Lk 2,51). Ist nicht dieser kindliche „Gehorsam“ bereits der erste Ausdruck jenes Gehorsams gegenüber dem Vater »bis zum Tod« (Phil 2,8), durch den er die Welt erlöst hat?
Das göttliche Geheimnis der Fleischwerdung des Wortes steht also in enger Beziehung zur menschlichen Familie. Nicht nur zu einer Familie, jener von Nazaret, sondern in gewisser Weise zu jeder Familie, entsprechend der Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils über den Sohn Gottes, der »sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt [hat]« (Gaudium et spes, 22). In der Nachfolge Christi, der in die Welt »gekommen« ist, »um zu dienen« (Mt 20,28), sieht die Kirche den Dienst an der Familie als eine ihrer wesentlichen Aufgaben an. In diesem Sinne stellen sowohl der Mensch wie die Familie »den Weg der Kirche« dar.
Das Jahr der Familie
3. Aus eben diesen Gründen begrüßt die Kirche mit Freude die von der Organisation der Vereinten Nationen geförderte Initiative, 1994 zum Internationalen Jahr der Familie zu erklären. Diese Initiative macht offenkundig, wie grundlegend für die Staaten, die UNO- Mitglieder sind, die Familienfrage ist. Wenn die Kirche daran teilzunehmen wünscht, so tut sie es, weil sie selbst von Christus zu »allen Völkern« (Mt 28, 19) gesandt worden ist. Es ist im Übrigen nicht das erste Mal, dass sich die Kirche eine internationale Initiative der UNO zu eigen macht. Es sei z. B. nur an das Internationale Jahr der Jugend 1985 erinnert. Auch auf diese Weise macht sie sich in der Welt präsent, indem sie die Papst Johannes' XXIII. so teure Absicht und Anregung der Konzilskonstitution Gaudium et spes verwirklicht.
Am Fest der Heiligen Familie 1993 hat in der gesamten Kirche das „Jahr der Familie“ begonnen als eine der bedeutsamen Etappen auf dem Vorbereitungsweg zum Großen Jubeljahr 2000, das das Ende des zweiten und den Beginn des dritten Jahrtausends seit der Geburt Jesu Christi bezeichnen wird. Dieses Jahr soll unsere Gedanken und Herzen auf Nazaret hinlenken, wo es am vergangenen 26. Dezember mit einer festlichen Eucharistiefeier unter Leitung des päpstlichen Gesandten offiziell eröffnet wurde.
Während dieses ganzen Jahres ist es wichtig, die Zeugnisse der Liebe und der Sorge der Kirche für die Familie wiederzuentdecken: Liebe und Sorge, die seit den Anfängen des Christentums, als die Familie bezeichnenderweise als „Hauskirche“ angesehen wurde, zum Ausdruck gebracht wurden. In unseren Tagen kommen wir häufig auf den Ausdruck „Hauskirche“ zurück, den sich das Konzil zu eigen macht (Lumen gentium, 11) und dessen Inhalt, so wünschen wir, immer lebendig und aktuell bleiben möge. Dieser Wunsch wird angesichts des Wissens um die veränderten Lebensbedingungen der Familien in der heutigen Welt nicht geringer. Eben deshalb ist der Titel, den das Konzil in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes gewählt hat, um die Aufgaben der Kirche in der Gegenwart aufzuzeigen, bedeutsamer denn je: »Förderung der Würde der Ehe und der Familie« (Gaudium et spes, II. Hauptteil, Kap. 1). Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt nach dem Konzil ist das Apostolische Schreiben Familiaris consortio aus dem Jahr 1981. Jener Text stellt sich einer umfangreichen und komplexen Erfahrung in Bezug auf die Familie, die immer und überall bei den verschiedenen Völkern und Ländern »der Weg der Kirche« bleibt. In gewisser Hinsicht wird sie es gerade dort noch mehr, wo die Familie innere Krisen erleidet oder schädlichen kulturellen, sozialen und ökonomischen Einflüssen ausgesetzt ist, die ihre innere Festigkeit untergraben, wenn sie nicht sogar ihre Bildung selbst behindern.
Das Gebet
4. Mit dem vorliegenden Schreiben möchte ich mich nicht an die Familie „im abstrakten Sinn“ wenden, sondern an jede konkrete Familie jeder Region der Erde, auf welchen geographischen Längen oder Breiten sie sich auch befinde und wie komplex und verschiedenartig ihre Kultur und ihre Geschichte auch sein mag. Die Liebe, mit der Christus »die Welt geliebt hat« (Joh 3,16), die Liebe, mit der Christus jeden einzelnen und alle »bis zur Vollendung geliebt hat« (Joh 13,1), ermöglicht es, diese Botschaft an jede Familie als Lebens-„Zelle“ der großen, universalen Menschheits-„Familie“ zu richten. Der Vater, Schöpfer des Universums, und das fleischgewordene Wort, Erlöser der Menschheit, bilden die Quelle dieser universalen Öffnung zu den Menschen als Brüder und Schwestern und halten dazu an, sie alle in das Gebet einzuschließen, das mit den anrührenden Worten beginnt: »Vater unser.«
Das Gebet bewirkt, dass der Sohn Gottes mitten unter uns weilt: »Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen« (Mt 18,20). Dieses Schreiben an die Familien möchte in erster Linie eine Bitte an Christus sein, in jeder menschlichen Familie zu bleiben; eine Einladung an Ihn, durch die kleine Familie von Eltern und Kindern in der großen Familie der Völker zu wohnen, damit tatsächlich alle mit Ihm zusammen sprechen können: »Vater unser!« Das Gebet muss zum beherrschenden Element des Jahres der Familie in der Kirche werden: das Gebet der Familie, das Gebet für die Familie, das Gebet mit der Familie.
Es ist bezeichnend, dass der Mensch gerade im Gebet und durch das Gebet auf äußerst schlichte und zugleich tiefgründige Weise seine ihm eigentümliche Subjektivität entdeckt: das menschliche „Ich“ nimmt im Gebet leichter die Tiefgründigkeit seines Personseins wahr. Das gilt auch für die Familie, die nicht nur die fundamentale »Zelle« der Gesellschaft ist, sondern auch eine eigene, besondere Subjektivität besitzt. Die erste und grundlegende Bestätigung findet dies und konsolidiert sich dann, wenn die Mitglieder der Familie einander in der gemeinsamen Anrufung begegnen: »Vater unser.« Das Gebet kräftigt die geistliche Stärkung und Festigung der Familie, indem es dazu beiträgt, sie an der »Stärke« Gottes teilhaben zu lassen. Bei dem feierlichen »Brautsegen« während der Eheschließungsfeier ruft der Zelebrant den Herrn mit den Worten an: »Gieße über sie (die Neuvermählten) die Gnade des Heiligen Geistes aus, damit sie kraft deiner Liebe, die ihre Herzen erfüllt, in ihrem ehelichen Bund einander treu bleiben« (Rituale Romanum, «Ordo celebrandi matrimonium», n. 74, editio typica altera, S. 26). Aus dieser »Ausgießung des Geistes« erwächst die den Familien innewohnende Stärke ebenso wie die Kraft, die in der Lage ist, sie in der Liebe und in der Wahrheit zu einigen.
Die Liebe und Sorge für alle Familien
5. Möge das Jahr der Familie zu einem einstimmigen und universalen Gebet der einzelnen »Hauskirchen« und des ganzen Volkes Gottes werden! Möge dieses Gebet auch die Familien erreichen, die in Schwierigkeiten oder in Gefahr sind, die verzagt oder getrennt sind und diejenigen, die sich in Situationen befinden, welche Familiaris consortio als „irregulär“ bezeichnet (Familiaris consortio, 79-84). Mögen sie alle sich von der Liebe und Sorge der Brüder und Schwestern umfangen fühlen!
Das Gebet im Jahr der Familie stellt zunächst ein ermutigendes Zeugnis vonseiten der Familien dar, die in der häuslichen Gemeinsamkeit ihre menschliche und christliche Lebensberufung verwirklichen. Deren gibt es zahlreiche in jeder Nation, Diözese und Pfarrei! Auch wenn man sich die nicht wenigen »irregulären Situationen« vor Augen hält, so darf man vernünftigerweise annehmen, dass jene »die Regel« darstellen. Und die Erfahrung zeigt, wie entscheidend die Rolle einer Familie in Übereinstimmung mit den sittlichen Normen ist, damit der Mensch, der in ihr geboren wird und seine Erziehung erfährt, ohne Unsicherheiten den Weg des Guten einschlägt, das ihm ja ewig in sein Herz geschrieben ist. Auf die Zersetzung der Familien scheinen in unseren Tagen leider verschiedene Programme ausgerichtet zu sein, die von sehr einflussreichen Medien unterstützt werden. Es scheint bisweilen so zu sein, dass unter allen Umständen versucht wird, Situationen, die tatsächlich „irregulär“ sind, als „regulär“ und anziehend darzustellen, indem man ihnen den äußeren Anschein eines verlockenden Zaubers verleiht; sie widersprechen tatsächlich der »Wahrheit und der Liebe«, die die gegenseitige Beziehung zwischen Männern und Frauen inspirieren und leiten sollen, und sind daher Anlass für Spannungen und Trennungen in den Familien mit schwerwiegenden Folgen besonders für die Kinder. Das moralische Gewissen wird verdunkelt, was wahr, gut und schön ist, wird entstellt, und die Freiheit wird in Wirklichkeit von einer regelrechten Knechtschaft verdrängt. Wie aktuell und anregend klingen angesichts all dessen die Worte des Paulus in Bezug auf die Freiheit, mit der Christus uns befreit hat, und die von der Sünde verursachte Knechtschaft (vgl. Gal 5,1)!
Man ist sich also bewusst, wie angemessen, ja notwendig in der Kirche ein Jahr der Familie ist; wie unerlässlich das Zeugnis aller Familien ist, die tagtäglich ihre Berufung leben; wie dringend ein intensives Gebet der Familien ist, das wächst und die ganze Erde umspannt und in dem die Danksagung für die Liebe in der Wahrheit, für die »Ausgießung der Gnade des Heiligen Geistes« (Rituale Romanum, «Ordo celebrandi matrimonium», n. 74, editio typica altera, S. 26), für die Anwesenheit Christi unter Eltern und Kindern zum Ausdruck kommt: Christi, des Erlösers und Bräutigams, der uns »bis zur Vollendung geliebt hat« (vgl. Joh 13,1). Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass diese Liebe größer als alles ist (vgl. 1 Kor 13,13), und wir glauben, dass sie imstande ist, siegreich all das zu überwinden, was nicht Liebe ist.
Möge dieses Jahr unablässig das Gebet der Kirche, das Gebet der Familien, der „Hauskirchen“, emporsteigen! Und möge es sich zuerst bei Gott und dann auch bei den Menschen vernehmen lassen, damit sie nicht in Zweifel verfallen und alle, die aus menschlicher Schwachheit wankend werden, nicht den Versuchungen der Faszination von nur scheinbar Gutem erliegen, wie sie sich in jeder Versuchung darbieten.
Zu Kana in Galiläa, wo Jesus zu einer Hochzeitsfeier eingeladen war, wandte sich die Mutter, die ebenso zugegen war, an die Diener und sagte: »Was er euch sagt, das tut« (Joh 2,5). Auch an uns, die wir in das Jahr der Familie eingetreten sind, richtet Maria eben diese Worte. Und was Christus in diesem besonderen geschichtlichen Augenblick sagt, stellt einen starken Aufruf zu einem großen Gebet mit den Familien und für die Familien dar. Die jungfräuliche Mutter lädt uns ein, uns mit diesem Gebet den Empfindungen des Sohnes zu verbinden, der eine jede Familie liebt. Diese Liebe hat er zu Beginn seiner Erlösungssendung eben mit seiner heilbringenden Anwesenheit in Kana in Galiläa zum Ausdruck gebracht, eine Anwesenheit, die bis heute andauert.
Bitten wir für die Familien in aller Welt. Bitten wir durch ihn, mit ihm und in ihm den Vater, »nach dessen Namen jedes Geschlecht im Himmel und auf der Erde benannt wird« (Eph 3,15).
I.
DIE ZIVILISATION DER LIEBE
»Als Mann und Frau schuf er sie«
6. Der unendliche und so vielfältige Kosmos, die Welt aller Lebewesen, ist in die Vaterschaft Gottes als sein Quell eingeschrieben (vgl. Eph 3,14–16). Er ist ihr natürlich eingeschrieben nach dem Kriterium der Analogie, aufgrund dessen es uns möglich ist, schon am Beginn des Buches Genesis die Wirklichkeit der Vaterschaft und Mutterschaft und daher auch der menschlichen Familie zu erkennen. Der interpretative Schlüssel dazu liegt im Prinzip des »Abbildes« und der »Ähnlichkeit« Gottes, die der biblische Text nachdrücklich betont (vgl. Gen 1,26). Gott erschafft kraft seines Wortes: »Es werde!« (z.B. Gen 1,3). Es ist bedeutsam, dass dieses Wort Gottes bei der Erschaffung des Menschen durch diese weiteren Worte ergänzt wird: »Laßt uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich« (Gen 1,26). Der Schöpfer geht, bevor er den Menschen schafft, gleichsam in sich selbst, um darin das Vorbild und die Inspiration im Geheimnis seines Wesens zu suchen, das sich in gewisser Hinsicht schon hier als das göttliche »Wir« offenbart. Aus diesem Geheimnis geht auf schöpferische Weise der Mensch hervor: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie« (Gen 1,27).
Gott segnet die neuen Wesen und spricht zu ihnen: »Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde; unterwerft sie euch« (Gen 1,28).
Das Buch Genesis gebraucht dieselben Formulierungen, die im Zusammenhang der Erschaffung der anderen Lebewesen verwendet wurden: »Vermehrt euch«, aber ihr analoger Sinn ist klar. Muss nicht diese Analogie von Zeugung und Elternschaft im Licht des Gesamtzusammenhanges gelesen werden? Keines der Lebewesen außer dem Menschen wurde »als Abbild Gottes und ihm ähnlich« geschaffen. Die menschliche Elternschaft hat, obwohl sie jener anderer Lebewesen in der Natur biologisch ähnlich ist, an sich wesenhaft und ausschließlich eine »Ähnlichkeit« mit Gott, auf die sich die Familie gründet, die als menschliche Lebensgemeinschaft, als Gemeinschaft von Personen, die in der Liebe vereint sind (communio personarum), verstanden wird.
Im Licht des Neuen Testamentes ist es möglich, das Urmodell der Familie in Gott selbst, im trinitarischen Geheimnis seines Lebens, wiederzuerkennen. Das göttliche „Wir“ bildet das ewige Vorbild des menschlichen „Wir“; vor allem jenes „Wir“«, das von dem nach dem Abbild und der Ähnlichkeit Gottes geschaffenen Mann und der Frau gebildet ist. Die Worte des Buches Genesis enthalten jene Wahrheit über den Menschen, der die Erfahrung der Menschheit selbst entspricht. Der Mensch wurde »am Anfang« als Mann und Frau geschaffen: Das Leben der menschlichen Gemeinschaft – der kleinen Gemeinschaften wie der ganzen Gesellschaft – trägt das Zeichen dieser Ur-Dualität. Aus ihr gehen die »Männlichkeit« und die »Weiblichkeit« der einzelnen Individuen hervor, so wie aus ihr jede Gemeinschaft ihren je eigentümlichen Reichtum in der gegenseitigen Ergänzung der Personen schöpft. Darauf scheint sich die Stelle aus dem Buch Genesis zu beziehen: »Als Mann und Frau schuf er sie« (Gen 1,27). Das ist auch die erste Aussage über die gleiche Würde von Mann und Frau: Beide sind in gleicher Weise Personen. Diese ihre Begründung mit der besonderen Würde, die sich daraus ergibt, bestimmt schon »am Anfang« die Wesensmerkmale des gemeinsamen Gutes der Menschheit in jeder Dimension und jedem Bereich des Lebens. Zu diesem gemeinsamen Gut leisten beide, der Mann und die Frau, ihren je eigenen Beitrag, dank dessen sich an den Wurzeln des menschlichen Zusammenlebens selbst der Charakter von Gemeinsamkeit und Ergänzung findet.
Der eheliche Bund
7. Die Familie wurde stets als erster und grundlegender Ausdruck der sozialen Natur des Menschen angesehen. In ihrem wesentlichen Kern hat sich diese Sicht auch heute nicht geändert. In unseren Tagen jedoch zieht man es vor, in der Familie, die die kleinste anfängliche menschliche Gemeinschaft darstellt, alles hervorzuheben, was persönlicher Beitrag des Mannes und der Frau ist. Die Familie ist tatsächlich eine Gemeinschaft von Personen, für welche die spezifische Existenzform und Art des Zusammenlebens die Gemeinsamkeit ist: communio personarum. Auch hier tritt bei Wahrung der absoluten Transzendenz des Schöpfers der Schöpfung gegenüber der exemplarische Bezug zum göttlichen »Wir« hervor. Nur Personen sind imstande, »in Gemeinsamkeit« zu leben. Ihren Ausgang nimmt die Familie von der ehelichen Verbindung, die das Zweite Vatikanische Konzil als »Bund« bezeichnet, in dem sich Mann und Frau »gegenseitig schenken und annehmen« (Gaudium et spes, 48).
Das Buch Genesis macht uns offen für diese Wahrheit, wenn es unter Bezugnahme auf die Gründung der Familie durch die Ehe sagt, »der Mann verlässt Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch« (Gen 2,24). Im Evangelium wiederholt Christus im Streitgespräch mit den Pharisäern dieselben Worte und fügt hinzu: »Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen« (Mt 19,6). Er offenbart von neuem den normativen Inhalt einer Tatsache, die bereits »am Anfang« (Mt 19,8) bestand und die diesen Inhalt immer in sich bewahrt. Wenn der Meister das „jetzt“ bestätigt, so tut er das, um an der Schwelle des Neuen Bundes den unauflöslichen Charakter der Ehe als Fundament des Gemeinwohls der Familie unmissverständlich klarzumachen.
Wenn wir zusammen mit dem Apostel die Knie vor dem Vater beugen, nach dessen Namen jede Elternschaft benannt ist (vgl. Eph 3,14–15), erkennen wir, dass das Elternsein das Ereignis ist, durch das die bereits mit dem Ehebund gebildete Familie sich »im vollen und eigentlichen Sinn« verwirklicht. (Familiaris consortio, 69). Die Mutterschaft schließt notwendig die Vaterschaft, und umgekehrt, die Vaterschaft notwendig die Mutterschaft ein: Sie ist Frucht der Dualität, die dem Menschen vom Schöpfer »am Anfang« geschenkt wurde.
Ich habe auf zwei miteinander verwandte, aber nicht identische Begriffe Bezug genommen: den Begriff communio (Gemeinsamkeit) und den Begriff communitas (Gemeinschaft). Die »Gemeinsamkeit« betrifft die persönliche Beziehung zwischen dem »Ich« und dem »Du«. Die »Gemeinschaft« dagegen übersteigt dieses Schema in Richtung einer »Gesellschaft«, eines »Wir«. Die Familie als Gemeinschaft von Personen ist daher die erste menschliche »Gesellschaft«. Sie entsteht, wenn der bei der Trauung geschlossene eheliche Bund sich verwirklicht, der die Eheleute für eine dauernde Liebes- und Lebensgemeinschaft öffnet und sich im vollen und eigentlichen Sinn mit der Zeugung von Kindern vervollständigt: Mit der »Gemeinsamkeit« der Eheleute beginnt diese grundlegende »Gemeinschaft« der Familie. Die »Familiengemeinschaft« ist zutiefst von dem durchdrungen, was das eigentliche Wesen der »Gemeinsamkeit« ausmacht. Kann es auf menschlicher Ebene eine andere »Gemeinsamkeit« geben, welche jener vergleichbar wäre, die zwischen der Mutter und dem Kind entsteht, das sie zuerst im Schoß getragen und dann zur Welt gebracht hat?
In der so begründeten Familie offenbart sich eine neue Einheit, in der die Beziehung der »Gemeinsamkeit« der Eltern volle Erfüllung findet. Die Erfahrung lehrt, dass diese Erfüllung auch eine Aufgabe und eine Herausforderung darstellt. Die Aufgabe verpflichtet die Ehegatten in der Verwirklichung ihres anfänglichen Bundes. Die von ihnen gezeugten Kinder müssten – und darin besteht die Herausforderung – diesen Bund dadurch festigen, dass sie die eheliche Gemeinsamkeit von Vater und Mutter bereichern und vertiefen. Ist das nicht der Fall, so muss man sich fragen, ob nicht der Egoismus, der sich wegen der menschlichen Neigung zum Bösen auch in der Liebe des Mannes und der Frau verbirgt, stärker ist als diese Liebe. Die Ehegatten müssen sich dessen sehr klar bewusst sein. Sie müssen von Anfang an ihre Herzen und Gedanken jenem Gott zuwenden, »nach dessen Namen jedes Geschlecht benannt wird«, damit ihre Elternschaft jedes Mal aus dieser Quelle die Kraft zur unablässigen Erneuerung der Liebe schöpfe.
Vaterschaft und Mutterschaft stellen an sich eine besondere Bestätigung der Liebe dar, deren ursprüngliche Weite und Tiefe zu entdecken sie ermöglichen. Das geschieht jedoch nicht automatisch. Es ist vielmehr eine Aufgabe, die beiden übertragen ist: dem Ehemann und der Ehefrau. In ihrem Leben stellen Vaterschaft und Mutterschaft eine »Neuheit« und eine Fülle dar, die so erhaben sind, dass man sie nur »auf den Knien« empfangen kann.
Die Erfahrung lehrt, dass die menschliche Liebe wegen ihrer auf die Elternschaft hin geordneten Natur bisweilen eine tiefe Krise durchmacht und daher ernsthaft bedroht ist. Man wird in solchen Fällen in Erwägung ziehen, sich an die Dienste zu wenden, die von Ehe- und Familienberatern angeboten werden, durch die es möglich ist, sich unter anderem von besonders ausgebildeten Psychologen und Psychotherapeuten Hilfe geben zu lassen. Man darf jedoch nicht vergessen, dass die Worte des Apostels immer gültig bleiben: »Ich beuge meine Knie vor dem Vater, nach dessen Namen jedes Geschlecht im Himmel und auf der Erde benannt wird.« Die Ehe, das Ehesakrament, ist ein in Liebe geschlossener Bund von Personen. Und die Liebe kann nur von der Liebe vertieft und geschützt werden, jener Liebe, die »ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist« (Röm 5,5). Sollte sich das Gebet des Jahres der Familie nicht auf den entscheidenden Punkt konzentrieren, den der Übergang von der ehelichen Liebe zur Zeugung und somit zur Elternschaft darstellt? Wird nicht gerade da die »Ausgießung der Gnade des Heiligen Geistes«, die die Liturgie während der Trauungsfeier erbittet, unentbehrlich?
Der Apostel bittet den Vater, während er seine Knie vor ihm beugt, »er möge euch ... schenken, dass ihr in eurem Innern durch seinen Geist an Kraft und Stärke zunehmt« (Eph 3,16). Diese »Kraft im Innern des Menschen« wird im gesamten Familienleben benötigt, besonders in seinen kritischen Augenblicken, wenn also die Liebe, die in dem liturgischen Ritus des Ehekonsenses mit den Worten ausgedrückt wurde: »Ich verspreche, dir immer, ... alle Tage meines Lebens treu zu bleiben«, einer schweren Prüfung ausgesetzt ist.
Die Einheit der beiden
8. Nur die „Personen“ sind imstande, diese Worte auszusprechen; nur sie sind fähig, auf der Grundlage der gegenseitigen Wahl, die ganz bewusst und frei ist bzw. sein sollte, »in Gemeinsamkeit« zu leben. Das Buch Genesis stellt dort, wo es auf den Mann Bezug nimmt, der Vater und Mutter verlässt, um sich an seine Frau zu binden (vgl. Gen 2,24), die bewusste und freie Wahl heraus, die der Ehe ihren Anfang verleiht und einen Sohn zum Ehemann und eine Tochter zur Ehefrau werden lässt. Wie soll man diese gegenseitige Wahl richtig verstehen, wenn man nicht die volle Wahrheit über die Person und das vernünftige und freie Wesen vor Augen hat? Das Zweite Vatikanische Konzil spricht hier unter Verwendung wie nie zuvor bedeutungsvoller Worte von der Ähnlichkeit mit Gott. Es bezieht sich dabei nicht nur auf das göttliche Ebenbild, das bereits jedes menschliche Wesen an und für sich besitzt, sondern auch und in erster Linie auf »eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Einheit der göttlichen Personen und der Einheit der Kinder Gottes in der Wahrheit und der Liebe« (Gaudium et spes, 24).
Diese besonders reichhaltige und prägnante Formulierung stellt vor allem heraus, was für die tiefste Identität jedes Mannes und jeder Frau entscheidend ist. Diese Identität besteht in der Fähigkeit, in der Wahrheit und in der Liebe zu leben; ja, noch mehr, sie besteht in dem Verlangen nach Wahrheit und Liebe als bestimmende Dimension des Lebens der Person. Dieses Verlangen nach Wahrheit und Liebe macht den Menschen sowohl offen für Gott wie für die Geschöpfe: Es macht ihn offen für die anderen Menschen, für das Leben »in Gemeinschaft«, vor allem für die Ehe und die Familie. In den Worten des Konzils ist die »Gemeinschaft« der Personen in gewissem Sinne aus dem Geheimnis des trinitarischen »Wir« abgeleitet, und auch die »eheliche Gemeinschaft« wird auf dieses Geheimnis bezogen. Die Familie, die aus der Liebe des Mannes und der Frau entsteht, erwächst in grundlegender Weise aus dem Mysterium Gottes. Das entspricht dem tiefsten Wesen des Mannes und der Frau, es entspricht ihrer Natur und ihrer Würde als Personen.
Mann und Frau vereinen sich in der Ehe so innig miteinander, dass sie – nach den Worten der Genesis – »ein Fleisch« werden (Gen 2,24). Die zwei Menschenwesen, die auf Grund ihrer physischen Verfassung männlich und weiblich sind, haben trotz körperlicher Verschiedenheit in gleicher Weise teil an der Fähigkeit, »in der Wahrheit und der Liebe« zu leben. Diese Fähigkeit, die für das menschliche Wesen, insofern es Person ist, charakteristisch ist, hat zugleich eine geistige und körperliche Dimension. Denn durch den Leib sind der Mann und die Frau darauf vorbereitet, in der Ehe eine »Gemeinschaft von Personen« zu bilden. Wenn sie sich kraft des ehelichen Bundes so vereinen, dass sie »ein Fleisch« werden (Gen 2,24), muss sich ihre Vereinigung »in der Wahrheit und der Liebe« erfüllen und auf diese Weise die eigentliche Reife der nach dem Abbild und Gleichnis Gottes erschaffenen Personen an den Tag legen.
Die aus dieser Vereinigung hervorgegangene Familie gewinnt ihre innere Festigkeit aus dem Bund zwischen den Ehegatten, den Christus zum Sakrament erhoben hat. Sie empfängt ihren Gemeinschaftscharakter, ja ihre Wesensmerkmale als »Gemeinschaft« aus jener grundlegenden Gemeinsamkeit der Ehegatten, die sich in den Kindern fortsetzt. »Seid ihr bereit, in Verantwortung und Liebe die Kinder, die Gott euch schenken will, anzunehmen und zu erziehen ...?«, fragt der Zelebrant während des Trauungsritus (Rituale Romanum, «Ordo celebrandi matrimonium», n. 60, editio typica altera, S. 17). Die Antwort der Brautleute entspricht der tiefsten Wahrheit der Liebe, die sie verbindet. Auch wenn ihre Einheit sie untereinander verschließt, öffnet sie sich doch auf ein neues Leben, auf eine neue Person hin. Als Eltern werden sie fähig sein, einem Wesen, das ihnen ähnlich ist, das Leben zu schenken, nicht nur »Fleisch von ihrem Fleisch und Bein von ihrem Gebein« (vgl. Gen 2,23), sondern Abbild und Gleichnis Gottes, das heißt Person.
Mit der Frage: »Seid ihr bereit?« erinnert die Kirche die Neuvermählten daran, dass sie sich im Angesicht der Schöpfermacht Gottes befinden. Sie sind berufen, Eltern zu werden, das heißt, mit dem Schöpfer mitzuwirken bei der Weitergabe des Lebens. Mit Gott zusammenarbeiten, um neue Menschen ins Leben zu rufen, heißt mitwirken an der Übertragung jenes göttlichen Abbildes, das jedes »von einer Frau geborene« Wesen in sich trägt.
Die Genealogie der Person
9. Durch die Gemeinschaft von Personen, die sich in der Ehe verwirklicht, gründen der Mann und die Frau die Familie. Mit der Familie verbindet sich die Genealogie jedes Menschen: die Genealogie der Person. Die menschliche Elternschaft hat ihre Wurzeln in der Biologie und geht zugleich über sie hinaus. Wenn der Apostel »seine Knie vor dem Vater beugt, nach dessen Namen jedes Geschlecht im Himmel und auf der Erde benannt wird«, stellt er uns in gewissem Sinne die gesamte Welt der Lebewesen vor Augen, von den Geistwesen im Himmel bis zu den leiblichen Geschöpfen auf der Erde. Jede Zeugung findet ihr Ur-Modell in der Vaterschaft Gottes. Doch im Fall des Menschen genügt diese »kosmische« Dimension der Gottähnlichkeit nicht, um die Beziehung von Vaterschaft und Mutterschaft angemessen zu definieren. Wenn aus der ehelichen Vereinigung der beiden ein neuer Mensch entsteht, so bringt er ein besonderes Abbild Gottes, eine besondere Ähnlichkeit mit Gott selbst in die Welt: In die Biologie der Zeugung ist die Genealogie der Person eingeschrieben.
Wenn wir sagen, die Ehegatten seien als Eltern bei der Empfängnis und Zeugung eines neuen Menschen Mitarbeiter des Schöpfergottes (Familiaris consortio, 28), beziehen wir uns nicht einfach auf die Gesetze der Biologie; wir wollen vielmehr hervorheben, dass in der menschlichen Elternschaft Gott selbst in einer anderen Weise gegenwärtig ist als bei jeder anderen Zeugung »auf Erden«. Denn nur von Gott kann jenes »Abbild und jene Ähnlichkeit« stammen, die dem Menschen wesenseigen ist, wie es bei der Schöpfung geschehen ist. Die Zeugung ist die Fortführung der Schöpfung (Pius XII, Humani Generis: AAS 42 (1950) 574).
So stehen also die Eltern sowohl bei der Empfängnis wie bei der Geburt eines neuen Menschen vor einem »tiefen Geheimnis« (Eph 5,32). Nicht anders als die Eltern ist auch der neue Mensch zur Existenz als Person, zum Leben »in der Wahrheit und der Liebe«, berufen. Diese Berufung öffnet sich nicht nur dem Zeitlichen, sondern in Gott öffnet sie sich der Ewigkeit. Das ist die Dimension der Genealogie der Person, die Christus uns endgültig enthüllt hat, als er das Licht seines Evangeliums auf das menschliche Leben und Sterben und damit auf die Bedeutung der menschlichen Familie ausgoss.
Wie das Konzil feststellt, ist der Mensch »auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur« (Gaudium et spes, 24). Die Entstehung des Menschen folgt nicht nur den Gesetzen der Biologie, sondern unmittelbar dem Schöpferwillen Gottes: Es ist der Wille, der die Genealogie der Söhne und Töchter der menschlichen Familien angeht. Gott hat den Menschen schon am Anfang »gewollt« – und Gott »will« ihn bei jeder menschlichen Empfängnis und Geburt. Gott »will« den Menschen als ein Ihm selbst ähnliches Wesen, als Person. Dieser Mensch, jeder Mensch wird von Gott »um seiner selbst willen« geschaffen. Das gilt für alle, auch jene, die mit Krankheiten oder Gebrechen zur Welt kommen. In die persönliche Verfassung eines jeden ist der Wille Gottes eingeschrieben, der den Menschen in gewissem Sinne selbst als Ziel will. Gott übergibt den Menschen sich selbst, während er ihn zugleich der Familie und der Gesellschaft als deren Aufgabe anvertraut. Die Eltern, die vor einem neuen Menschenwesen stehen, sind sich oder sollten sich voll dessen bewusst sein, dass Gott diesen Menschen »um seiner selbst willen will«.
Diese knappe Formulierung ist sehr inhaltsreich und tiefgreifend. Vom Augenblick der Empfängnis und dann von der Geburt an ist das neue Wesen dazu bestimmt, sein Menschsein in Fülle zum Ausdruck zu bringen – sich als Person zu »finden« (Gaudium et spes, 24). Das betrifft absolut alle, auch die chronisch Kranken und geistig Behinderten. »Mensch sein« ist seine fundamentale Berufung: »Mensch sein« nach Maßgabe der empfangenen Gaben. Nach Maßgabe jener »Begabung«, die das Menschsein an sich darstellt, und erst dann nach Maßgabe der anderen Talente. In diesem Sinne will Gott jeden Menschen »um seiner selbst willen«. In dem Plan Gottes überschreitet die Berufung der menschlichen Person jedoch die zeitlichen Grenzen. Sie kommt dem Willen des Vaters entgegen, der im fleischgewordenen Wort geoffenbart worden ist: Gott will den Menschen dadurch beschenken, dass er ihn an seinem göttlichen Leben teilhaben lässt. Christus sagt: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10,10).
Steht die letzte Bestimmung des Menschen nicht im Widerspruch zu der Feststellung, dass Gott den Menschen »um seiner selbst willen« will? Wenn der Mensch für das göttliche Leben geschaffen ist, existiert er dann wirklich »um seiner selbst willen«? Das ist eine Schlüsselfrage, die sowohl für das Aufblühen wie für das Verlöschen der irdischen Existenz große Bedeutung hat: Sie ist für den Verlauf des ganzen Lebens wichtig. Es könnte den Anschein haben, dass Gott dem Menschen dadurch, dass er ihn für das göttliche Leben bestimmt, endgültig sein Existieren »um seiner selbst willen« entzieht (Gaudium et spes, 24). Welche Beziehung besteht zwischen dem persönlichen Leben und der Teilhabe am trinitarischen Leben? Darauf antwortet der hl. Augustinus mit den berühmten Worten: »Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir« (Augustinus, Confessiones, I, 1: CCL, 27, 1). Dieses »unruhige Herz« deutet darauf hin, dass zwischen der einen und der anderen Zielsetzung kein Widerspruch besteht, vielmehr eine Verbindung, eine Zuordnung, eine tiefgreifende Einheit. Auf Grund der ihr eigenen Genealogie existiert die nach dem Bild Gottes geschaffene Person gerade durch Teilhabe an Seinem Leben »um ihrer selbst willen« und verwirklicht sich. Der Gehalt solcher Verwirklichung ist die Fülle des Lebens in Gott, jenes Lebens, von dem Christus spricht (vgl. Joh 6,37–40), der uns gerade dafür erlöst hat, um uns dort hineinzuführen (vgl. Mk 10,45).
Die Ehegatten wünschen die Kinder für sich; und sie sehen in ihnen die Krönung ihrer gegenseitigen Liebe. Sie wünschen sie für die Familie als wertvollstes Geschenk (Gaudium et spes, 50). Es ist in gewissem Maß ein verständlicher Wunsch. Doch ist der ehelichen und der elterlichen Liebe die Wahrheit über den Menschen eingeschrieben, die in knapper und präziser Form vom Konzil ausgedrückt wurde mit der Feststellung, dass Gott »den Menschen um seiner selbst willen will«. Mit dem Willen Gottes muss der Wille der Eltern übereinstimmen: In diesem Sinne müssen sie das neue menschliche Geschöpf wollen, wie es der Schöpfer will: um seiner selbst willen. Das menschliche Wollen unterliegt immer und unweigerlich dem Gesetz der Zeit und der Vergänglichkeit. Das göttliche hingegen ist ewig. »Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt«, lesen wir im Buch des Propheten Jeremia (1, 5). Die Genealogie der Person ist also zunächst mit der Ewigkeit Gottes verbunden und erst danach mit der menschlichen Elternschaft, die sich in der Zeit verwirklicht. Bereits im Augenblick der Empfängnis ist der Mensch hingeordnet auf die Ewigkeit in Gott.
Das gemeinsame Wohl von Ehe und Familie
10. Der Ehekonsens definiert das der Ehe und der Familie gemeinsame Wohl. »Ich nehme dich . . . als meine Frau – als meinen Mann – und verspreche dir die Treue in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit. Ich will dich lieben, achten und ehren, solange ich lebe« (Rituale Romanum, «Ordo celebrandi matrimonium», n. 60, editio typica altera, S. 17). Die Ehe ist eine einzigartige Gemeinsamkeit von Personen. Auf der Grundlage dieser Gemeinsamkeit ist die Familie berufen, zu einer Gemeinschaft von Personen zu werden. Es handelt sich dabei um eine Verpflichtung, die die Neuvermählten »vor Gott und der Kirche« übernehmen, wie ihnen der Zelebrant im Augenblick des Konsensaustausches in Erinnerung ruft (ebd., n. 61). Zeugen dieser Verpflichtung sind alle, die an dem Ritus teilnehmen; in ihnen sind in gewissem Sinne die Kirche und die Gesellschaft als Lebensraum der neuen Familie vertreten.
Die Worte des Ehekonsenses legen fest, worin das gemeinsame Wohl des Ehepaares und der Familie besteht. Zunächst das gemeinsame Wohl der Ehegatten: die Liebe, die Treue, die Ehrerbietung, die Dauerhaftigkeit ihrer Verbindung bis zum Tod: »alle Tage des Lebens.« Das Wohl der beiden, das zugleich das Wohl eines jeden von ihnen ist, muss dann zum Wohl der Kinder werden. Während das gemeinsame Wohl seiner Natur nach die einzelnen Personen verbindet, gewährleistet es das wahre Wohl einer jeden von ihnen. Wenn die Kirche, wie übrigens auch der Staat, den durch die oben wiedergegebenen Worte ausgedrückten Konsens der Ehegatten entgegennimmt, so tut sie das, weil er »ihnen ins Herz geschrieben ist« (Röm 2,15). Es sind die Ehegatten, die sich gegenseitig den Ehekonsens leisten, indem sie vor Gott schwören, das heißt die Wahrheit ihres Konsenses beteuern. Als Getaufte sind sie in der Kirche Spender des Sakraments der Ehe. Der hl. Paulus lehrt, dass diese gegenseitige Hingabe ein »tiefes Geheimnis« (Eph 5,32) ist.
Die Worte des Konsenses drücken also aus, was das gemeinsame Wohl der Ehegatten darstellt, und weisen auf das hin, was das gemeinsame Wohl der künftigen Familie sein muss. Um das hervorzuheben, richtet die Kirche an sie die Frage, ob sie bereit seien, die Kinder, die Gott ihnen schenken wird, anzunehmen und christlich zu erziehen. Die Frage bezieht sich auf das gemeinsame Wohl des künftigen Kerns der Familie, während sie die in die Gründung der Ehe und Familie eingeschriebene Genealogie der Personen gegenwärtig hält. Die Frage der Kinder und ihrer Erziehung steht in engem Zusammenhang mit dem Ehekonsens, mit dem Schwur von Liebe, ehelicher Achtung und Treue bis zum Tod. Die Annahme und Erziehung der Kinder – zwei der wichtigsten Zwecke – sind von der Erfüllung dieser Verpflichtung abhängig. Die Elternschaft stellt eine Aufgabe nicht nur physischer, sondern geistlicher Natur dar; denn über sie verläuft die Genealogie der Person, die ihren ewigen Anfang in Gott hat und zu Ihm hinführen soll.
Über all das sollte das Jahr der Familie, ein Jahr des besonderen Gebets der Familien, jede Familie in neuer und vertiefter Weise unterrichten. Was für eine Fülle von Stichworten aus der Bibel könnte den Nährboden dieses Gebetes bilden! Wichtig ist nur, dass zu den Worten der Heiligen Schrift stets das persönliche Gedenken an die Ehegatten als Eltern und an die Kinder und Enkel hinzukommt. Durch die Genealogie der Personen wird die eheliche Gemeinsamkeit zu einer Gemeinsamkeit der Generationen. Der in dem festen Vertrag vor Gott geschlossene sakramentale Bund der beiden dauert fort und konsolidiert sich in der Aufeinanderfolge der Generationen. Er muss zur Gebetseinheit werden. Damit das aber im Jahr der Familie auf bedeutsame Weise sichtbar werden kann, muss das Beten zu einer Gewohnheit werden, die im täglichen Leben jeder Familie verwurzelt ist. Das Gebet ist Danksagung, Gotteslob, Bitte um Vergebung, inständige Bitte und Anrufung. In jeder dieser Formen hat das Gebet der Familie Gott viel zu sagen. Es hat auch den Menschen viel zu sagen, angefangen bei der gegenseitigen Gemeinsamkeit der Personen, die durch familiäre Bande verbunden sind.
»Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst?« (Ps 8,5), fragt der Psalmist. Das Gebet ist der Ort, wo sich auf die schlichteste Weise das schöpferische und väterliche Gedenken Gottes offenbart. Nicht nur und nicht so sehr das Gedenken an Gott vonseiten des Menschen als vielmehr das Gedenken an den Menschen vonseiten Gottes. Darum kann das Gebet der Familiengemeinschaft zum Ort gemeinsamen und gegenseitigen Gedenkens werden: denn die Familie ist Generationengemeinschaft. Beim Gebet sollen alle anwesend sein: die Lebenden ebenso wie die bereits Verstorbenen und auch diejenigen, die noch zur Welt kommen sollen. Es ist nötig, dass man in der Familie für jeden betet, im Rahmen des Gutes, das die Familie für ihn, und des Gutes, das er für die Familie darstellt. Das Gebet bekräftigt noch fester dieses Gut eben als gemeinsames Gut der Familie. Ja, es lässt dieses Gut auch auf immer neue Weise entstehen. Im Gebet ist die Familie gleichsam das erste „Wir“, in dem jeder „ich“ und „du“ ist; jeder ist für den anderen Gatte bzw. Gattin, Vater bzw. Mutter, Sohn oder Tochter, Bruder oder Schwester, Großvater oder Enkel.
Sind das die Familien, an die ich mich mit diesem Schreiben wende? Sicher gibt es nicht wenige Familien von dieser Art, aber die Zeit, in der wir leben, macht die Tendenz zu einer Beschränkung des Familienkerns auf den Umfang von zwei Generationen offenkundig. Dies hat seinen Grund oft in dem nur beschränkt vorhandenen Wohnraum, insbesondere in den großen Städten. Nicht selten liegt es aber auch in der Überzeugung begründet, mehrere Generationen zusammen störten die Vertraulichkeit und erschwerten zu sehr das Leben. Ist aber nicht gerade das der schwächste Punkt? In den Familien unserer Zeit gibt es wenig menschliches Leben. Es fehlen Personen, mit denen man das gemeinsame Wohl schaffen und teilen kann; doch das Wohl verlangt seiner Natur nach, geschaffen und mit anderen geteilt zu werden: bonum est diffusivum sui (»das Gute ist auf seine Ausbreitung hin angelegt«) (Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, I, q. 5, a. 4, ad 2). Je mehr das Wohl gemeinsam ist, desto mehr ist es auch eigenes Wohl: mein – dein – unser. Das ist die innere Logik der Existenz im Guten, in der Wahrheit und in der Liebe. Wenn der Mensch diese Logik anzunehmen und ihr zu folgen versteht, wird seine Existenz wahrhaftig zu einer »aufrichtigen Hingabe«.
Die aufrichtige Selbsthingabe
11. Der Feststellung, dass der Mensch auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist, fügt das Konzil sogleich hinzu, dass er »sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann« (Gaudium et spes, 24). Das könnte wie ein Widerspruch erscheinen, ist es tatsächlich aber nicht. Es ist vielmehr das große staunenswerte Paradoxon der menschlichen Existenz: einer Existenz, die berufen ist, der Wahrheit in der Liebe zu dienen. Die Liebe sorgt dafür, dass sich der Mensch durch die aufrichtige Selbsthingabe verwirklicht: Lieben heißt, alles geben und empfangen, was man weder kaufen noch verkaufen, sondern sich nur aus freien Stücken gegenseitig schenken kann.
Die Hingabe der Person verlangt ihrer Natur nach beständig und unwiderruflich zu sein. Die Unauflöslichkeit der Ehe entspringt hauptsächlich aus dem Wesen solcher Hingabe: Hingabe der Person an die Person. In diesem gegenseitigen Sich-Hingeben kommt der bräutliche Charakter der Liebe zum Ausdruck. Im Ehekonsens nennen sich die Neuvermählten bei ihrem Eigennamen: »Ich ... nehme dich ... als meine Frau (als meinen Mann) und verspreche dir die Treue ... solange ich lebe.« Eine solche Hingabe verpflichtet viel stärker und tiefer als alles, was auf welche Weise und um welchen Preis auch immer »gekauft« werden kann. Während sie ihre Knie vor dem Vater beugen, von dem jede Elternschaft stammt, werden sich die künftigen Eltern bewusst, dass sie »erlöst« worden sind. Sie sind in der Tat um einen teuren Preis losgekauft worden, um den Preis der aufrichtigsten Hingabe, die überhaupt möglich ist, das Blut Christi, an dem sie durch das Sakrament teilhaben. Liturgische Krönung des Ehekonsenses ist die Eucharistie – das Opfer des »hingegebenen Leibes« und des »vergossenen Blutes« –, die im Konsens der Brautleute in gewisser Weise ihren Ausdruck findet.
Wenn sich der Mann und die Frau in der Ehe in der Einheit des »einen Fleisches« gegenseitig schenken und empfangen, tritt die Logik der aufrichtigen Hingabe in ihr Leben ein. Ohne sie wäre die Ehe leer, während die auf diese Logik gegründete Gemeinschaft der Personen zur Gemeinschaft der Eltern wird. Wenn sie das Leben an ein Kind weitergeben, fügt sich im Bereich des „Wir“ der Eheleute ein neues menschliches „Du“ ein, eine Person, die sie mit einem neuen Namen benennen werden: „unser Sohn ...; unsere Tochter ...“ »Ich habe einen Mann vom Herrn erworben« (Gen 4,1), sagt Eva, die erste Frau der Geschichte. Ein menschliches Wesen, das zunächst neun Monate lang erwartet und den Eltern und Geschwistern dann »offenbar gemacht« wurde. Der Prozess von Empfängnis und Entwicklung im Mutterschob, Niederkunft und Geburt dient dazu, gleichsam einen geeigneten Raum zu schaffen, damit sich das neue Geschöpf als »Gabe« kundmachen kann: denn das ist es in der Tat von Anfang an. Könnte dieses zarte, hilflose Geschöpf, das in allem von seinen Eltern abhängig und vollständig ihnen anvertraut ist, etwa anders bezeichnet werden? Das Neugeborene gibt sich den Eltern damit hin, dass es zur Existenz gelangt. Seine Existenz ist bereits ein Geschenk, das erste Geschenk des Schöpfers an die Kreatur.
Im Neugeborenen verwirklicht sich das gemeinsame Wohl der Familie. Wie das gemeinsame Wohl der Ehegatten Erfüllung in der ehelichen Liebe findet, bereit, zu geben und das neue Leben zu empfangen, so verwirklicht sich das gemeinsame Wohl der Familie durch dieselbe eheliche Liebe, die im Neugeborenen Gestalt angenommen hat. In die Genealogie der Person ist die Genealogie der Familie eingeschrieben, die durch die Vermerke in den Taufregistern im Gedächtnis festgehalten wird, auch wenn diese nur die soziale Folge der Tatsache sind, »dass ein Mensch zur Welt gekommen ist« (Joh 16,21).
Aber ist es wahr, dass das neue Menschenwesen ein Geschenk für die Eltern ist? Ein Geschenk für die Gesellschaft? Allem Anschein nach deutet nichts darauf hin. Die Geburt eines Menschen scheint manchmal schlicht als ein statistisches Datum auf, das wie viele andere in den Berechnungen zum Bevölkerungswachstum registriert wird. Sicher bedeutet die Geburt eines Kindes für die Eltern zusätzliche Mühen, neue wirtschaftliche Belastungen und andere praktische Bedingtheiten: Dies sind Gründe, die sie zu der Versuchung verleiten können, keine weitere Geburt zu wollen (Johannes Paul II, Sollicitudo rei socialis, 25). In manchen gesellschaftlichen und kulturellen Kreisen macht sich diese Versuchung sehr stark bemerkbar. Ist also das Kind kein Geschenk? Kommt es nur, um zu nehmen und nicht, um zu geben? Das sind einige besorgniserregende Fragen, von denen sich der heutige Mensch nur mit Mühe zu befreien vermag. Das Kind kommt und beansprucht Platz, während es auf der Welt immer weniger Platz zu geben scheint. Aber stimmt es wirklich, dass das Kind der Familie und der Gesellschaft nichts bringt? Ist es etwa nicht ein »Teilchen« jenes gemeinsamen Gutes, ohne das die menschlichen Gemeinschaften zerbrechen und Gefahr laufen zu sterben? Wie könnte man das leugnen? Das Kind wird von sich aus zu einem Geschenk für die Geschwister, für die Eltern, für die ganze Familie. Sein Leben wird zum Geschenk für die Geber des Lebens, die nicht umhinkönnen werden, die Anwesenheit des Kindes, seine Teilnahme an ihrer Existenz, seinen Beitrag zu ihrem und zum gemeinsamen Wohl der Familiengemeinschaft wahrzunehmen. Das ist eine Wahrheit, die in ihrer Einfachheit und Tiefe selbstverständlich ist trotz der Kompliziertheit und auch möglichen Pathologie der psychologischen Struktur bestimmter Personen. Das Gemeinwohl der ganzen Gesellschaft liegt im Menschen, der, wie erwähnt, »der Weg der Kirche« (Johannes Paul II, Redemptor hominis, 14; Centesimus annus, 53) ist. Er ist zunächst »die Ehre Gottes«: Gloria Dei vivens homo, wie es in dem bekannten Ausspruch des hl. Irenäus heißt (Adversus Haereses, IV, 20, 7: PG 7, 1057; SCh 100/2, 648-649), der auch so übersetzt werden könnte: »Es gereicht Gott zur Ehre, dass der Mensch lebt.« Wir stehen hier, so könnte man sagen, vor der höchsten Definition des Menschen: Die Ehre Gottes ist das gemeinsame Gut alles Existierenden; das gemeinsame Gut des Menschengeschlechtes.
Ja! Der Mensch ist ein gemeinsames Gut: gemeinsames Gut der Familie und der Menschheit, der einzelnen Gruppen und der vielfältigen sozialen Strukturen. Es bedarf jedoch einer bedeutsamen Unterscheidung nach Grad und Modalität. Der Mensch ist zum Beispiel gemeinsames Gut der Nation, der er angehört, oder des Staates, dessen Bürger er ist; aber er ist es auf konkretere, einzigartige und unwiederholbare Weise für seine Familie; er ist es nicht nur als zur Masse der Menschen gehörendes Individuum, sondern als »dieser Mensch«. Der Schöpfergott ruft ihn »um seiner selbst willen« ins Leben: Und damit, dass der Mensch zur Welt kommt, beginnt sein »großes Abenteuer«, das Abenteuer des Lebens. »Dieser Mensch« hat auf Grund seiner menschlichen Würde jedenfalls Anspruch auf eigene Behauptung. Genau diese Würde bestimmt ja den Platz der Person unter den Menschen und zunächst in der Familie. In der Tat ist die Familie – mehr als jede andere menschliche Wirklichkeit – der Bereich, in dem der Mensch durch die aufrichtige Selbsthingabe »um seiner selbst willen« existieren kann. Deshalb bleibt sie eine soziale Institution, die man nicht ersetzen kann und nicht ersetzen darf: Sie ist »das Heiligtum des Lebens« (Centesimus annus, 39).
Die Tatsache, dass ein Mensch geboren wird, dass »ein Mensch zur Welt gekommen ist« (Joh 16,21), stellt ein österliches Zeichen dar. Davon spricht, wie der Evangelist Johannes berichtet, Jesus selbst zu den Jüngern vor seinem Leiden und Tod, indem er die Traurigkeit über seinen Weggang mit dem Schmerz einer gebärenden Frau vergleicht: »Wenn die Frau gebären soll, ist sie bekümmert (d.h. sie leidet), weil ihre Stunde da ist; aber wenn sie das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an ihre Not über der Freude, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist« (Joh 16,21). Die »Stunde« des Todes Christi (vgl. Joh 13,1) wird hier mit der »Stunde« der Frau in Geburtswehen verglichen; die Geburt eines neuen Menschen findet ihre volle Entsprechung in dem von der Auferstehung des Herrn gewirkten Sieg des Lebens über den Tod. Diese Gegenüberstellung gibt Anlass zu verschiedenen Überlegungen. Wie die Auferstehung Christi die Offenbarung des Lebens jenseits der Schwelle des Todes ist, so ist auch die Geburt eines Kindes Offenbarung des Lebens, das durch Christus immer zur »Fülle des Lebens« bestimmt ist, die in Gott selbst liegt: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10,10). Damit ist die wahre Bedeutung des Wortes des hl. Irenäus – Gloria Dei vivens homo – in ihrem tiefgründigsten Wert enthüllt.
Es ist die evangelische Wahrheit der Selbsthingabe, ohne die der Mensch nicht »vollkommen zu sich selbst kommen« kann und die ihn erahnen lässt, wie tief diese »aufrichtige Hingabe« in der Hingabe Gottes, des Schöpfers und Erlösers, in »der Gnade des Heiligen Geistes«, deren »Ausgießen« auf die Neuvermählten der Zelebrant während der Trauungsfeier erbittet, verwurzelt ist. Ohne dieses »Ausgießen« wäre es wirklich schwierig, das alles zu begreifen und als Berufung des Menschen zu erfüllen. Jedoch viele Menschen erfassen es intuitiv! So viele Männer und Frauen tun genau diese Wahrheit, wodurch sie zu der Erkenntnis gelangen, dass sie nur in ihr »der Wahrheit und dem Leben« (Joh 14,6) begegnen. Ohne diese Wahrheit vermag das Leben der Ehegatten und der Familie keinen vollkommen menschlichen Sinn zu erlangen.
Darum wird die Kirche niemals müde, diese Wahrheit zu lehren und zu bezeugen. Auch wenn sie mütterliches Verständnis für die zahlreichen und komplizierten Krisensituationen, in die die Familien verwickelt sind, sowie auch für die moralische Schwachheit jedes Menschen bekundet, ist die Kirche der Überzeugung, dass sie der Wahrheit über die menschliche Liebe absolut treu bleiben müsse: andernfalls würde sie sich selbst verraten. Ein Abweichen von dieser heilbringenden Wahrheit wäre in der Tat dasselbe, als würde sie »die Augen eures Herzens« (Eph 1,18) schließen, die hingegen stets offen bleiben müssen für das Licht, mit dem das Evangelium die menschlichen Geschehnisse erleuchtet (vgl. 2 Tim 1,10). Das Bewusstsein jener aufrichtigen Selbsthingabe, durch die der Mensch »sich selbst findet«, wird nachdrücklich erneuert und ständig gewährleistet angesichts der zahlreichen Widerstände, denen die Kirche seitens der Befürworter einer falschen Zivilisation des Fortschritts begegnet (Sollicitudo rei socialis, 25). Die Familie bringt immer eine neue Dimension des Wohls für die Menschen zum Ausdruck und ruft dadurch neue Verantwortung hervor. Es handelt sich um die Verantwortung für jenes einzigartige gemeinsame Gut, in das das Wohl des Menschen eingeschlossen ist: jedes Mitgliedes der Familiengemeinschaft; ein sicherlich »schwieriges« (bonum arduum), aber faszinierendes Gut.
Die verantwortliche Elternschaft
12. Beim Entwurf des vorliegenden Schreibens an die Familien ist nun der Zeitpunkt gekommen, auf zwei miteinander verknüpfte Fragen einzugehen. Die eine allgemeinere betrifft die Zivilisation der Liebe; die andere spezifischere betrifft die verantwortliche Elternschaft.
Wir haben bereits gesagt, dass die Ehe sich an eine einzigartige Verantwortung für das gemeinsame Wohl wendet: zunächst der Ehegatten, dann der Familie. Dargestellt wird dieses gemeinsame Gut vom Menschen, vom Wert der Person und von allem, was das Maß seiner Würde repräsentiert. Der Mensch bringt diese Dimension in jedes soziale, wirtschaftliche und politische System mit. Im Bereich der Ehe und Familie wird diese Verantwortung aus vielen Gründen noch »verbindlicher«. Nicht ohne Grund spricht die Pastoralkonstitution Gaudium et spes von »Förderung der Würde der Ehe und der Familie«. Das Konzil sieht diese »Förderung« als Aufgabe der Kirche wie des Staates; doch sie bleibt in jeder Kultur vor allem Pflicht der Personen, die ehelich vereint eine bestimmte Familie bilden. Die »verantwortliche Elternschaft« bringt die konkrete Aufgabe zum Ausdruck, diese Pflicht zu erfüllen, die in der heutigen Welt neue Wesensmerkmale angenommen hat.
Diese betrifft insbesondere direkt den Augenblick, wo der Mann und die Frau dadurch, dass sie sich »zu einem Fleisch« vereinen, Eltern werden können. Es ist ein an besonderem Wert reicher Augenblick, sei es für ihre interpersonale Beziehung, sei es für ihren Dienst am Leben: Sie können Eltern – Vater und Mutter – werden und das Leben an ein neues menschliches Wesen weitergeben. Die beiden Dimensionen der ehelichen Vereinigung, nämlich Vereinigung und Zeugung, lassen sich nicht künstlich trennen, ohne die tiefste Wahrheit des ehelichen Aktes selbst anzugreifen (Paul VI, Humane Vitae, 12; Katechismus der Katholischen Kirche, n. 2366).
Das ist die ständige Lehre der Kirche, und die „Zeichen der Zeit“, deren Zeugen wir heute sind, bieten neue Gründe, sie mit besonderem Nachdruck zu bekräftigen. Der den pastoralen Erfordernissen seiner Zeit gegenüber so aufmerksame hl. Paulus verlangte in Klarheit und Festigkeit, »dafür einzutreten, ob man es hören will oder nicht« (vgl. 2 Tim 4,2), ohne jede Angst davor, dass »man die gesunde Lehre nicht erträgt« (vgl. 2 Tim 4,3). Seine Worte sind allen gut bekannt, die das Geschehen unserer Zeit zutiefst erfassen und erwarten, dass die Kirche »die gesunde Lehre« nicht nur nicht aufgibt, sondern sie mit erneuerter Kraft verkündet, indem sie in den aktuellen »Zeichen der Zeit« die Gründe für ihre weitere und von der Vorsehung bestimmte Vertiefung erneut sucht.
Viele dieser Gründe finden sich bereits in den Wissenschaften wieder, die sich aus dem alten Stamm der Anthropologie zu verschiedenen Fachgebieten, wie der Biologie, der Psychologie, der Soziologie und deren weiteren Verzweigungen entwickelt haben. Alle kreisen gewissermaßen um die Medizin, die zugleich Wissenschaft und Kunst ist (ars medica): im Dienst des Lebens und der Gesundheit des Menschen. Aber die Gründe, auf die hier hingewiesen wird, ergeben sich vor allem aus der menschlichen Erfahrung, die vielfältig ist und die in gewissem Sinne der Wissenschaft selbst vorausgeht und folgt.
Die Ehegatten lernen aus eigener Erfahrung, was die verantwortliche Elternschaft bedeutet; sie lernen es auch dank der Erfahrung anderer Ehepaare, die in ähnlichen Verhältnissen leben und auf diese Weise aufgeschlossener für die Daten der Wissenschaften geworden sind. Man könnte also sagen, die »Gelehrten« lernen gleichsam von den »Eheleuten«, um dann ihrerseits in der Lage zu sein, sie auf kompetentere Weise über die Bedeutung der verantwortungsbewussten Zeugung und über die Methoden ihrer Anwendung zu unterrichten.
Ausführlich wurde dieses Thema in den Konzilsdokumenten behandelt, in der Enzyklika Humanae vitae, in den »Vorschlägen« der Bischofssynode von 1980, in dem Apostolischen Schreiben Familiaris consortio und in ähnlichen Dokumenten bis hin zu der von der Glaubenskongregation herausgegebenen Instruktion Donum vitae. Die Kirche lehrt die moralische Wahrheit über die verantwortliche Elternschaft und verteidigt sie gegen heute verbreitete irrige Sichtweisen. Warum tut die Kirche das? Etwa weil sie die Problemlage nicht zur Kenntnis nimmt, die von allen beschworen wird, die in diesem Bereich zum Nachgeben raten und die Kirche auch mit unrechtmäßigem Druck, wenn nicht manchmal geradezu mit Drohungen, zu überzeugen suchen? Nicht selten wirft man dem kirchlichen Lehramt in der Tat vor, es sei bereits überholt und verschließe sich den Forderungen des modernen »Zeitgeistes«; es entfalte ein Vorgehen, das für die Menschheit, ja für die Kirche selbst schädlich sei. Durch das hartnäckige Verharren auf ihren Positionen würde die Kirche – so heißt es – an Popularität verlieren, und die Gläubigen würden sich immer mehr von ihr abwenden.
Doch wie kann man behaupten, die Kirche, besonders die mit dem Papst vereinten Bischöfe, sei unempfindlich für solch schwerwiegende und aktuelle Themen? Paul VI. erkannte gerade in ihnen so lebensentscheidende Fragen, die ihn zur Veröffentlichung der Enzyklika Humanae vitae veranlassten. Das Fundament, auf das sich die Lehre der Kirche von der »verantwortlichen Elternschaft« gründet, ist umfassender und tragfähiger denn je. Das Konzil bringt das zunächst in der Lehre über den Menschen zur Sprache, wenn es sagt, dass er »auf Erden die einzige von Gott um seiner selbst willen gewollte Kreatur ist« und »sich nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann« (Gaudium et spes, 24). Dies deshalb, weil er als Abbild und Gleichnis Gottes geschaffen und von dem für uns und um unseres Heiles willen Mensch gewordenen, eingeborenen Sohn des Vaters erlöst worden ist.
Das Zweite Vatikanische Konzil, das dem Problem des Menschen und seiner Berufung besondere Aufmerksamkeit widmete, führt aus, dass die eheliche Vereinigung, das biblische »ein Fleisch«, nur dann vollkommen verstanden und erklärt werden kann, wenn man auf die Werte der »Person« und der »Hingabe« zurückgreift. Jeder Mann und jede Frau verwirklichen sich vollständig durch die aufrichtige Hingabe ihrer selbst, und der Augenblick der ehelichen Vereinigung stellt für die Eheleute eine ganz besondere Erfahrung dar. Da werden der Mann und die Frau in der »Wahrheit« ihrer Männlichkeit und Weiblichkeit zu gegenseitiger Hingabe. Das ganze Leben in der Ehe ist Hingabe; in einzigartiger Weise wird das aber offenkundig, wenn die Ehegatten durch ihr gegenseitiges Sich-Darbringen in der Liebe jene Begegnung vollziehen, die aus den beiden »ein Fleisch« macht (Gen 2,24).
Sie erleben also auch wegen der mit dem ehelichen Akt verbundenen Zeugungsfähigkeit einen Augenblick besonderer Verantwortung. Die Ehegatten können in jenem Augenblick Vater und Mutter werden, indem sie die Entstehung einer neuen menschlichen Existenz hervorrufen, die sich dann im Schoß der Frau entwickeln wird. Wenn die Frau als erste bemerkt, dass sie Mutter geworden ist, so erfährt durch ihr Zeugnis der Mann, mit dem sie sich zu »einem Fleisch« vereinigt hat, seinerseits, dass er Vater geworden ist. Für die mögliche und in der Folge tatsächliche Vater- bzw. Mutterschaft sind beide verantwortlich. Der Mann muss das Ergebnis einer Entscheidung, die auch seine gewesen ist, anerkennen und annehmen. Er kann sich nicht hinter Ausdrucksweisen verstecken wie: »Ich weiß nichts«, »ich will nicht«, »du hast gewollt.« Die eheliche Vereinigung schließt auf jeden Fall die Verantwortung des Mannes und der Frau ein, eine potentiell vorhandene Verantwortung, die zur tatsächlichen wird, wenn die Umstände es auferlegen. Das gilt vor allem für den Mann, der, obwohl er der erste Urheber der Einleitung des Zeugungsprozesses ist, biologisch davon Abstand hat: denn das neue Menschenwesen wächst in der Frau heran. Wie könnte der Mann davon unberührt bleiben? Beide, der Mann und die Frau, müssen gemeinsam sich selbst und den anderen gegenüber die Verantwortung für das von ihnen hervorgerufene neue Leben übernehmen.
Diese Schlussfolgerung wird im Wesentlichen von den Humanwissenschaften geteilt. Man muss jedoch tiefer gehen und die Bedeutung des ehelichen Aktes im Lichte der erwähnten Werte der „Person“ und der „Hingabe“ analysieren. Das ist es, was die Kirche durch ihre beständige Lehre, besonders auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, tut.
Im Augenblick des ehelichen Aktes sind der Mann und die Frau dazu aufgerufen, die gegenseitige Hingabe ihrer selbst, die sie im ehelichen Bund geleistet haben, auf verantwortungsbewusste Weise zu bestätigen. Nun zieht die Logik der totalen Selbsthingabe an den anderen die potentielle Öffnung für die Zeugung nach sich: Die Ehe ist somit aufgerufen, sich als Familie noch vollkommener zu verwirklichen. Sicher hat die gegenseitige Hingabe von Mann und Frau nicht als einziges Ziel die Geburt von Nachwuchs, sondern ist in sich selbst die gegenseitige Gemeinschaft der Liebe und des Lebens. Aber immer muss die innerste Wahrheit dieser Hingabe gewährleistet sein. „Innerste“ ist nicht gleichbedeutend mit „subjektiver“ Wahrheit. Es bedeutet vielmehr, dass sie wesentlich mit der objektiven Wahrheit desjenigen bzw. derjenigen verbunden ist, der oder die sich hingibt. Die Person darf niemals als Mittel zur Erreichung eines Zweckes betrachtet werden; niemals vor allem als Mittel des „Genusses“. Sie ist und muss einzig das Ziel jedes Aktes sein. Nur dann entspricht die Handlung der wahren Würde der Person.
Zum Abschluss unserer Überlegungen zu diesem so wichtigen und heiklen Thema möchte ich ein besonderes Wort der Ermutigung zunächst an euch, liebe Eheleute, und an alle jene richten, die euch helfen, die Lehre der Kirche über die Ehe, über die verantwortliche Elternschaft zu verstehen und in die Praxis umzusetzen. Ich denke insbesondere an die Seelsorger, an die vielen Gelehrten, Theologen, Philosophen, Schriftsteller und Publizisten, die sich nicht dem herrschenden Kulturkonformismus anpassen, sondern mutig bereit sind, »gegen den Strom zu schwimmen«. Darüber hinaus betrifft diese Ermutigung eine ständig wachsende Gruppe von Experten, Ärzten und Erziehern, wahren Laienaposteln, für die die Förderung der Würde der Ehe und der Familie zu einer wichtigen Lebensaufgabe geworden ist. Im Namen der Kirche sage ich allen meinen Dank! Was könnten ohne sie die Seelsorger, die Priester, die Bischöfe, ja selbst der Nachfolger Petri ausrichten? Davon habe ich mich immer mehr überzeugt seit den ersten Jahren meines Priestertums, von der Zeit an, als ich mich in den Beichtstuhl zu setzen begann, um die Sorgen, Ängste und Hoffnungen so vieler Eheleute zu teilen: Ich bin schwierigen Fällen von Auflehnung und Verweigerung begegnet, gleichzeitig aber zahllosen, in großartiger Weise verantwortlichen und großzügigen Personen! Während ich dieses Schreiben verfasse, habe ich alle diese Eheleute vor Augen und umfange sie mit meiner Zuneigung und mit meinem Gebet.
Die zwei Zivilisationen
13. Liebe Familien, die Frage der verantwortlichen Elternschaft ist eingeschrieben in die Gesamtthematik der »Zivilisation der Liebe«, über die ich jetzt zu euch sprechen will. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich klar, dass die Familie die Grundlage dessen bildet, was Paul VI. als »Zivilisation der Liebe« bezeichnete (Predigt zum Abschluss des Heiligen Jahres, 25. Dezember 1975), ein Ausdruck, der dann in die Lehre der Kirche Eingang gefunden hat und bereits vertraut und gebräuchlich geworden ist. Heutzutage lässt sich kaum ein Beitrag der Kirche oder über die Kirche denken, der von der Bezugnahme auf die Zivilisation der Liebe absehen würde. Der Ausdruck steht in Verbindung mit der Tradition der »Hauskirche« im Christentum der Anfänge, besitzt aber auch einen klaren Bezug zur heutigen Zeit.
Etymologisch leitet sich der Begriff „Zivilisation“ von civis, Staatsbürger, her und unterstreicht die politische Dimension der Existenz jedes Individuums. Der tiefere Sinn des Ausdrucks „Zivilisation“ ist jedoch nicht so sehr politisch als eigentlich mehr „humanistisch“. Die Zivilisation gehört zur Geschichte des Menschen, weil sie seinen geistigen und moralischen Bedürfnissen entspricht: als Abbild und Gleichnis Gottes geschaffen, hat er die Welt aus den Händen des Schöpfers mit dem Auftrag empfangen, sie nach seinem Abbild und Gleichnis zu gestalten. Genau aus der Erfüllung dieser Aufgabe entsteht die Zivilisation, die schließlich nichts anderes ist als die »Humanisierung der Welt«.
„Zivilisation“ hat also in gewisser Hinsicht dieselbe Bedeutung wie „Kultur“. Man könnte daher auch sagen: »Kultur der Liebe«, obwohl es vorzuziehen ist, sich an den bereits vertraut gewordenen Ausdruck zu halten. Die Zivilisation der Liebe im jetzigen Sinn des Ausdrucks inspiriert sich an den Worten aus der Konzilskonstitution Gaudium et spes: »Christus ... macht ... dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung« (Gaudium et spes, 22). Man kann daher sagen, die Zivilisation der Liebe beginnt mit der Offenbarung Gottes, der »die Liebe ist«, wie Johannes sagt (1 Joh 4,8.16), und die von Paulus im Hohenlied der Liebe im ersten Korintherbrief (13,1–13) wirkungsvoll beschrieben wird. Diese Zivilisation ist eng verbunden mit der Liebe, die »ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist« (Röm 5,5), und die wächst dank der beständigen Kultivierung, von der die Allegorie aus dem Evangelium vom Weinstock und von den Reben so einprägsam spricht: »Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Winzer. Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab, und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt« (Joh 15,1–2).
Im Lichte dieser und anderer Texte des Neuen Testamentes vermag man zu erfassen, was man unter »Zivilisation der Liebe« versteht und warum die Familie mit dieser Zivilisation organisch verbunden ist. Wenn die Familie der erste »Weg der Kirche« ist, muss man hinzufügen, dass auch die Zivilisation der Liebe »Weg der Kirche« ist, der in der Welt verläuft und die Familien und die anderen nationalen und internationalen gesellschaftlichen Institutionen eben wegen der Familie und durch die Familien auf diesen Weg ruft. Denn die Familie hängt in vielfacher Hinsicht von der Zivilisation der Liebe ab, in der sie die Gründe ihres Seins als Familie findet. Und gleichzeitig ist die Familie das Zentrum und das Herz der Zivilisation der Liebe.
Es gibt jedoch keine echte Liebe ohne das Bewusstsein, dass Gott »die Liebe ist« und dass der Mensch das einzige Geschöpf Gottes auf Erden ist, das »um seiner selbst willen« ins Leben gerufen wurde. Der als Abbild und Gleichnis Gottes erschaffene Mensch kann sich nur durch die aufrichtige Selbsthingabe in vollem Maße »wiederfinden«. Ohne einen solchen Begriff vom Menschen, von der Person und von der »Gemeinsamkeit von Personen« in der Familie kann es die Zivilisation der Liebe nicht geben; umgekehrt ist ohne die Zivilisation der Liebe ein solcher Begriff von Person und Gemeinsamkeit von Personen nicht möglich. Die Familie stellt die fundamentale »Zelle« der Gesellschaft dar. Doch bedarf es Christi – des »Weinstocks«, aus dem sich die »Reben« nähren –, damit diese Zelle nicht der Bedrohung einer Art kultureller Entwurzelung ausgesetzt ist, die sowohl von innen wie auch von außen herrühren kann. Denn wenn auf der einen Seite die »Zivilisation der Liebe« besteht, so ist auf der anderen Seite weiterhin die Möglichkeit zu einer destruktiven »Anti-Zivilisation« gegeben, wie das in der Tat heute von vielen Tendenzen und Situationen bestätigt wird.
Wer kann leugnen, dass unsere Zeit eine Zeit großer Krisen ist, die sich an erster Stelle als eine tiefe »Krise der Wahrheit« darstellt? Krise der Wahrheit bedeutet in erster Linie Krise von Begriffen. Bedeuten die Begriffe »Liebe«, »Freiheit«, »aufrichtige Hingabe« und selbst die Begriffe »Person«, »Rechte der Person« wirklich das, was sie von ihrem Wesen her beinhalten? Deshalb hat sich die Enzyklika über den »Glanz der Wahrheit« (Veritatis splendor) für die Kirche und für die Welt – vor allem im Westen – als so kennzeichnend und bedeutsam erwiesen. Nur wenn die Wahrheit über die Freiheit und die Gemeinsamkeit der Personen in Ehe und Familie ihren Glanz zurückgewinnt, wird es wirklich den Aufbau der Zivilisation der Liebe geben und dann möglich sein, wirksam – wie es das Konzil tut – von »Förderung der Würde der Ehe und Familie« (Gaudium et spes, 47) zu sprechen.
Warum ist der »Glanz der Wahrheit« so wichtig? Er ist es vor allem aus Kontrast: Die Entwicklung der modernen Zivilisation ist an einen naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritt gebunden, der sich oft als einseitig erweist und demzufolge rein positivistische Wesensmerkmale aufweist. Der Positivismus hat bekanntlich auf theoretischem Gebiet den Agnostizismus und auf praktischem und sittlichem Gebiet den Utilitarismus zum Ergebnis. In unseren Tagen wiederholt sich die Geschichte in gewisser Hinsicht. Der Utilitarismus ist eine »Zivilisation« der Produktion und des Genusses, eine Zivilisation der Dinge und nicht der »Personen«, eine Zivilisation, in der von »Personen« wie von »Dingen« Gebrauch gemacht wird. Im Zusammenhang mit der Zivilisation des Genusses kann die Frau für den Mann zu einem Objekt werden, die Kinder zu einem Hindernis für die Eltern, die Familie zu einer hemmenden Einrichtung für die Freiheit der Mitglieder, die sie bilden. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur manche Programme der Sexualerziehung zu prüfen, die häufig trotz gegenteiliger Meinung und des Protestes vieler Eltern in den Schulen eingeführt werden; oder die Neigung zur Abtreibung, die sich vergeblich hinter dem sogenannten »Selbstentscheidungsrecht« (pro choice) von seiten beider Ehegatten, im Besonderen aber von seiten der Frau zu verstecken sucht. Das sind nur zwei der vielen Beispiele, die man in Erinnerung rufen könnte.
Es leuchtet unmittelbar ein, dass sich in einer solchen kulturellen Situation die Familie bedroht fühlen muss, weil sie in ihren eigentlichen Grundfesten gefährdet ist. Alles, was gegen die Zivilisation der Liebe ist, ist gegen die Wahrheit über den Menschen insgesamt und wird für ihn zu einer Bedrohung: Es erlaubt ihm nicht, zu sich selbst zu finden und sich als Gatte, als Vater oder Mutter, als Kind sicher zu fühlen. Die von der »technischen Zivilisation« propagierte sogenannte »sichere Sexualität« ist im Hinblick auf die globalen Erfordernisse der Person in Wirklichkeit ganz entschieden nicht sicher, ja für die Person äußerst gefährlich. Denn hier befindet sich die Person in Gefahr, so wie sich ihrerseits die Familie in Gefahr bringt. Worin besteht die Gefahr? Es ist der Verlust der Wahrheit über sich selbst, zu der sich das Risiko des Verlustes der Freiheit und demzufolge selbst des Verlustes der Liebe hinzugesellt. »Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen – sagt Jesus –, und die Wahrheit wird euch befreien« (Joh 8,32): Die Wahrheit, nur die Wahrheit wird euch auf eine Liebe vorbereiten, von der man sagen kann, dass sie „schön“ ist.
Die Familie unserer Zeit wie aller Zeiten ist auf der Suche nach der »schönen Liebe«. Eine Liebe, die nicht »schön« ist oder die nur auf Befriedigung der Begierde (vgl. 1 Joh 2,16), auf einen gegenseitigen »Gebrauch« des Mannes und der Frau verkürzt wird, macht die Person zum Sklaven ihrer Schwächen. Bringen nicht manche moderne »Kulturprogramme« diese Versklavung? Es sind Programme, die auf die Schwächen des Menschen »niederrieseln« und ihn auf diese Weise immer schwächer und schutzloser machen.
Die Zivilisation der Liebe ruft Freude hervor: unter anderem Freude darüber, dass ein Mensch zur Welt kommt (vgl. Joh 16,21), und folglich, weil die Gatten Eltern werden. Zivilisation der Liebe bedeutet »sich an der Wahrheit freuen« (vgl. 1 Kor 13,6). Aber eine Zivilisation, die sich an einer konsumistischen und geburtenfeindlichen Gesinnung inspiriert, ist keine Zivilisation der Liebe und kann es niemals sein. Wenn die Familie so wichtig für die Zivilisation der Liebe ist, so ist sie es wegen der besonderen Nähe und Intensität der Bande, die in ihr zwischen den Personen und Generationen entstehen. Sie bleibt jedoch verwundbar und kann leicht den Gefahren ausgesetzt sein, die ihre Einheit und Festigkeit schwächen oder sogar zerstören. Infolge solcher Gefahren hören die Familien auf, Zeugnis zu geben für die Zivilisation der Liebe, und können sogar zu ihrer Verneinung, zu einer Art Gegen-Zeugnis werden. Eine zerstörte Familie kann ihrerseits eine spezifische Form von »Anti-Zivilisation« stärken, indem sie die Liebe in den verschiedenen Ausdrucksformen zerstört, mit unvermeidlichen Auswirkungen auf das gesamte soziale Leben.
Die Liebe ist anspruchsvoll
14. Jene Liebe, welcher der Apostel Paulus im Brief an die Korinther sein Hohelied gewidmet hat – jene Liebe, die »langmütig und gütig ist« und »alles erträgt« (1 Kor 13,4.7) –, ist gewiss eine anspruchsvolle Liebe. Doch genau darin besteht ihre Schönheit: in der Tatsache, dass sie anspruchsvoll ist, denn auf diese Weise baut sie das wahre Gute des Menschen auf. Das Gute ist nämlich, sagt der hl. Thomas, seiner Natur nach »auf Ausbreitung hin angelegt« (Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I, q.5, a.4, ad 2). Die Liebe ist wahr, wenn sie das Gute der Personen und der Gemeinschaften hervorruft, es hervorruft und es an die anderen weitergibt. Nur wer im Namen der Liebe an sich selbst Forderungen zu stellen vermag, kann auch von den anderen Liebe verlangen. Denn die Liebe ist anspruchsvoll. Sie ist es in jeder menschlichen Situation; sie ist es umso mehr für denjenigen, der sich dem Evangelium öffnet. Ist es nicht dies, was Christus in »seinem« Gebot verkündet? Es ist notwendig, dass die heutigen Menschen diese anspruchsvolle Liebe entdecken, denn sie bildet in Wahrheit das tragende Fundament der Familie, ein Fundament, das imstande ist, »alles zu ertragen«. Nach dem Apostel ist die Liebe nicht fähig, alles »zu ertragen«, wenn sie »Neid und Missgunst« nachgibt, wenn sie »prahlt«, wenn sie »sich aufbläht«, wenn sie »ungehörig handelt« (vgl. 1 Kor 13,4–5). Die wahre Liebe, so lehrt der hl. Paulus, ist anders: »Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand« (1 Kor 13,7). Genau diese Liebe »wird alles ertragen«. In ihr wirkt die starke Kraft Gottes selbst, der »die Liebe ist« (1 Joh 4,8.16). In ihr wirkt die starke Kraft Christi, des Erlösers des Menschen und Heilands der Welt.
Mit unserer Meditation über das 13. Kapitel des ersten Paulusbriefes an die Korinther begeben wir uns auf den Weg, der uns am unmittelbarsten und augenfälligsten die volle Wahrheit über die Zivilisation der Liebe begreifen lässt. Kein anderer biblischer Text drückt diese Wahrheit einfacher und umfassender aus als das Hohelied der Liebe.
Die Gefahren, die der Liebe entgegenstehen, stellen auch eine Bedrohung für die Zivilisation der Liebe dar, weil sie begünstigen, was ihr wirksam zu widerstreiten vermag. Hier ist insbesondere an den Egoismus gedacht, nicht nur den Egoismus des einzelnen, sondern auch denjenigen des Ehepaares oder, in einem noch weiteren Bereich, an den sozialen Egoismus, z.B. einer Klasse oder einer Nation (Nationalismus). Der Egoismus, in jeder Form, widerspricht unmittelbar und grundsätzlich der Zivilisation der Liebe. Will man etwa behaupten, die Liebe werde einfachhin als »Anti-Egoismus« definiert? Das wäre eine allzu armselige und nur negative Definition, auch wenn es wahr ist, dass zur Verwirklichung der Liebe und der Zivilisation der Liebe verschiedene Formen von Egoismus überwunden werden müssen. Richtiger ist hier von »Altruismus« zu sprechen, der die Antithese des Egoismus ist. Doch noch reichhaltiger und vollständiger ist sodann der vom hl. Paulus erläuterte Liebesbegriff. Das Hohelied der Liebe aus dem ersten Korintherbrief bleibt die Magna Charta der Zivilisation der Liebe. In ihm geht es nicht so sehr um einzelne Äußerungen (sei es des Egoismus oder des Altruismus) als um die radikale Annahme des Konzeptes des Menschen als Person, die sich durch die aufrichtige Hingabe ihrer selbst »wiederfindet«. Eine Hingabe ist natürlich »für die anderen« da: Das ist die wichtigste Dimension der Zivilisation der Liebe.
Wir betreten somit das Herzstück der evangelischen Wahrheit über die Freiheit. Die Person verwirklicht sich durch die Ausübung der Freiheit in der Wahrheit. Die Freiheit kann nicht als Befugnis verstanden werden, alles Beliebige zu tun: Sie bedeutet Selbsthingabe. Mehr noch: Sie bedeutet innere Disziplin der Selbsthingabe. In den Begriff Hingabe ist nicht nur die freie Initiative des Subjektes, sondern auch die Dimension der Pflicht eingeschrieben. Das alles verwirklicht sich in der »Gemeinsamkeit der Personen«. So befinden wir uns hier im eigentlichen Herzen jeder Familie.
Wir befinden uns auch auf den Spuren des Gegensatzes zwischen dem Individualismus und dem Personalismus. Die Liebe, die Zivilisation der Liebe ist mit dem Personalismus verbunden. Warum gerade mit dem Personalismus? Weil der Individualismus die Zivilisation der Liebe bedroht? Den Schlüssel zur Antwort finden wir in dem Ausdruck des Konzils: eine »aufrichtige Hingabe«. Der Individualismus setzt einen Gebrauch der Freiheit voraus, indem das Subjekt macht, was es will und was ihm nützlich erscheint, indem es selbst »die Wahrheit« dessen, was ihm beliebt, »festlegt«: Es duldet nicht, dass andere von ihm etwas im Namen einer objektiven Wahrheit »wollen« oder fordern. Es will einem anderen nicht auf der Grundlage der Wahrheit »geben«, es will nicht zu einer »aufrichtigen« Hingabe werden. Der Individualismus bleibt somit egozentrisch und egoistisch. Der Gegensatz zum Personalismus entsteht nicht nur im Bereich der Theorie, sondern noch mehr in dem des „Ethos“. Das „Ethos“ des Personalismus ist altruistisch: Es treibt die Person dazu an, sich für die anderen hinzugeben und Freude in der Hingabe zu finden. Es ist die Freude, von der Christus spricht (vgl. Joh 15,11; 16,20.22).
Darum müssen die menschlichen Gesellschaften und in ihnen die Familien, die häufig in einem Umfeld des Kampfes zwischen der Zivilisation der Liebe und ihren Gegensätzen leben, ihr tragendes Fundament in einer richtigen Auffassung vom Menschen und davon suchen, was über die volle „Verwirklichung“ seines Menschseins entscheidet. Sicher im Widerspruch zur Zivilisation der Liebe steht die sogenannte „freie Liebe“, die umso gefährlicher ist, weil sie gewöhnlich als Frucht eines „echten“ Gefühls hingestellt wird, während sie tatsächlich die Liebe zerstört. Wie viele Familien sind gerade aus „freier Liebe“ in die Brüche gegangen! Dem „wahren“ Gefühlsantrieb im Namen einer von Auflagen „freien“ Liebe auf jeden Fall zu folgen, bedeutet in Wirklichkeit, den Menschen zum Sklaven jener menschlichen Instinkte zu machen, die der hl. Thomas »Leidenschaften in der Seele« nennt (Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, I-II, q. 22). Die „freie Liebe“ nützt die menschlichen Schwächen aus, indem sie ihnen mit Hilfe der Verführung und mit dem Beistand der öffentlichen Meinung einen gewissen „Rahmen“ von Vortrefflichkeit liefert. So sucht man durch die Schaffung eines „moralischen Alibi“ das Gewissen „zu beruhigen“. Nicht bedacht werden jedoch alle daraus erwachsenden Folgen, besonders, wenn diese außer dem Ehegatten die Kinder zu bezahlen haben, die des Vaters oder der Mutter beraubt und dazu verurteilt werden, tatsächlich Waisen lebender Eltern zu sein.
Dem sittlichen Utilitarismus liegt, wie man weiß, die dauernde Suche nach dem „Maximum“ an Glück zugrunde, aber eines „utilitaristischen Glücks“, das nur als Vergnügen, als unmittelbare Befriedigung zum ausschließlichen Vorteil des einzelnen Individuums verstanden wird, jenseits oder gegen die objektiven Forderungen des wahren Guten.
Das dargestellte Programm des Utilitarismus, das sich auf eine im individualistischen Sinne orientierte Freiheit oder eine Freiheit ohne Verantwortung gründet, stellt die Antithese zur Liebe dar, auch als Ausdruck der in ihrer Gesamtheit betrachteten menschlichen Zivilisation. Wenn dieser Freiheitsbegriff in der Gesellschaft Aufnahme findet und sich leicht mit den verschiedensten Formen menschlicher Schwäche verbindet, wird er sich recht bald als systematische und dauernde Bedrohung für die Familie entpuppen. In diesem Zusammenhang lieben sich viele unheilvolle, auf statistischer Ebene dokumentierbare Folgen anführen, auch wenn nicht wenige von ihnen als schmerzliche und blutende Wunden in den Herzen der Männer und Frauen verborgen bleiben.
Die Liebe der Ehegatten und der Eltern besitzt die Fähigkeit, solche Wunden zu behandeln, wenn nicht die in Erinnerung gebrachten Gefahren sie ihrer für die menschlichen Gemeinschaften so wohltuenden und heilsamen Regenerationskraft berauben. Diese Fähigkeit hängt von der göttlichen Gnade der Vergebung und der Wiederversöhnung ab, die die geistige Kraft gewährleistet, immer aufs Neue zu beginnen. Deshalb haben es die Mitglieder der Familie nötig, Christus in der Kirche durch das wunderbare Sakrament der Bube und der Wiederversöhnung zu begegnen.
In diesem Zusammenhang wird man sich bewusst, wie wichtig das Gebet mit den Familien und für die Familien, insbesondere für die von der Trennung bedrohten Familien, ist. Wir müssen dafür beten, dass die Ehegatten ihre Berufung auch dann lieben, wenn der Weg schwierig wird oder enge und steile, scheinbar unüberwindbare Strecken aufweist; beten, damit sie auch dann ihrem Bund mit Gott treu sind.
»Die Familie ist der Weg der Kirche«. In diesem Schreiben wollen wir diesen Weg bekennen und miteinander verkünden, der über das Ehe- und Familienleben »zum Himmelreich führt« (vgl. Mt 7,14). Es ist wichtig, dass die »Personengemeinschaft« in der Familie zur Vorbereitung auf die »Gemeinschaft der Heiligen« wird! Eben deshalb bekennt und verkündet die Kirche die Liebe, die »alles erträgt« (1Kor 13,7), weil sie mit dem hl. Paulus in ihr die »größte« (1 Kor 13,13) Tugend sieht. Der Apostel setzt für niemanden Grenzen. Lieben ist Berufung aller, auch der Eheleute und der Familien. In der Kirche sind in der Tat alle gleichermaßen zur Vollkommenheit der Heiligkeit berufen (vgl. Mt 5,48).38
Das vierte Gebot: »Du sollst Vater und Mutter ehren«
15. Das vierte der Zehn Gebote betrifft die Familie, ihre innere Festigkeit und Geschlossenheit; wir könnten auch sagen: ihre Solidarität.
Im Wortlaut des vierten Gebotes ist von der Familie nicht ausdrücklich die Rede. Tatsächlich geht es aber um sie. Um die Gemeinsamkeit zwischen den Generationen auszudrücken, hat der göttliche Gesetzgeber kein passenderes Wort gefunden als: »Ehre ... « (Ex 20,12). Wir stehen hier vor einer anderen Form, das auszudrücken, was Familie ist. Diese Formulierung ist keine »künstliche« Erhöhung der Familie, sondern legt ihre Subjektivität und die daraus erwachsenden Rechte an den Tag. Die Familie ist eine Gemeinschaft besonders intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen: zwischen Ehegatten, zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Generationen. Sie ist eine Gemeinschaft, die in besonderer Weise garantiert wird. Und Gott findet keine bessere Gewähr dafür als: »Ehre!«
»Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt« (Ex 20,12). Dieses Gebot folgt auf die drei grundlegenden Gebote, die das Verhältnis des Menschen und des Volkes Israel zu Gott betreffen: »Shema, Israel ... «, Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig« (Dtn 6,4). »Du sollst neben mir keine anderen Götter haben« (Ex 20,3). Das ist das erste und größte Gebot, das Gebot, Gott »über alle Dinge« zu lieben: Er wird »mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft« geliebt (Dtn 6,5; vgl. Mt 22,37). Es ist bezeichnend, dass sich das vierte Gebot gerade in diesen Rahmen einfügt: »Ehre deinen Vater und deine Mutter«, denn sie sind für dich in gewissem Sinne die Bevollmächtigten des Herrn, diejenigen, die dir das Leben geschenkt und dich in die menschliche Existenz eingeführt haben: in einen Stamm, eine Nation, eine Kultur. Nach Gott sind sie deine ersten Wohltäter. Wenn allein Gott gut, ja das Gute selbst ist, so haben die Eltern in einzigartiger Weise an dieser seiner erhabenen Güte teil. Und deshalb: Ehre deine Eltern! Hier besteht eine gewisse Analogie zu der Verehrung, die Gott gebührt.
Das vierte Gebot steht in enger Verbindung zum Gebot der Liebe. Das Band zwischen »ehre!« und »liebe!« ist tief. Die Ehre ist in ihrem Wesenskern mit der Tugend der Gerechtigkeit verbunden, doch lässt sich diese ihrerseits ohne Berufung auf die Liebe – Liebe zu Gott und zum Nächsten – nicht vollständig erklären. Und wer ist mehr Nächster als die eigenen Familienangehörigen, die Eltern und die Kinder?
Ist das vom vierten Gebot angezeigte interpersonale System einseitig? Verpflichtet es dazu, nur die Eltern zu ehren? Im buchstäblichen Sinn: ja. Indirekt können wir jedoch auch von der »Ehre« sprechen, die den Kindern von seiten der Eltern gebührt. »Ehre« heißt: erkenne an! Das heißt, laß dich von der überzeugten Anerkennung der Person leiten, vor allem von der Person des Vaters und der Mutter und dann von der anderer Familienmitglieder. Die Ehre ist eine ihrem Wesen nach selbstlose Haltung. Man könnte sagen, sie ist »eine aufrichtige Hingabe der Person an die Person«, und in diesem Sinne trifft sich die Ehre mit der Liebe. Wenn das vierte Gebot Vater und Mutter zu ehren verlangt, so verlangt es das auch im Hinblick auf das Wohl der Familie. Eben deshalb stellt es jedoch Anforderungen an die Eltern. Eltern – daran scheint sie das göttliche Gebot zu erinnern – , handelt so, dass euer Verhalten die Ehre (und die Liebe) von seiten eurer Kinder verdient! Laßt den göttlichen Ehranspruch für euch nicht in ein »moralisches Vakuum« hineinfallen! Schließlich handelt es sich also um eine wechselseitige Ehre. Das Gebot »ehre deinen Vater und deine Mutter« sagt den Eltern indirekt: Ehrt eure Söhne und eure Töchter! Sie verdienen das, weil sie existieren, weil sie das sind, was sie sind: Das gilt vom ersten Augenblick der Empfängnis an. So macht dieses Gebot dadurch, dass es die innerste Familienbande zum Ausdruck bringt, das Fundament ihrer inneren Geschlossenheit offenkundig.
Das Gebot fährt fort: »damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.« Dieses »damit« könnte ein »utilitaristisches« Kalkül nahelegen: ehren im Hinblick auf das künftige lange Leben. Wir sagen indessen, dass das die essentielle Bedeutung des seinem Wesen nach mit einer selbstlosen Haltung verbundenen Imperativs »ehre« nicht mindert. Ehren bedeutet niemals: »Ziehe die Vorteile in Betracht.« Dennoch fällt es schwer, nicht zuzugeben, dass aus der zwischen den Mitgliedern der Familiengemeinschaft bestehenden Haltung wechselseitiger Ehre auch Nutzen verschiedener Art erwächst. Die »Ehre« ist sicher nützlich, so wie jedes wahre Gut »nützlich« ist.
Die Familie verwirklicht vor allem das Gut des »Zusammenseins«, das Gut im wahrsten Sinne des Wortes der Ehe (daher ihre Unauflöslichkeit) und der Familiengemeinschaft. Man könnte es zudem als Gut der Subjektivität bezeichnen. Denn die Person ist ein Subjekt, und das ist auch die Familie, weil sie von Personen gebildet wird, die durch ein tiefes Band der Gemeinschaft verbunden sind und so ein einziges Gemeinschaftssubjekt bilden. Ja, die Familie ist mehr Subjekt als jede andere soziale Institution: mehr als die Nation, der Staat, mehr als die Gesellschaft und die internationalen Organisationen. Diese Gesellschaften, besonders die Nationen, erfreuen sich deshalb einer eigenen Subjektivität, weil sie sie von den Personen und ihren Familien erhalten. Sind das lediglich »theoretische« Überlegungen, formuliert, um die Familie in der öffentlichen Meinung zu »erhöhen«? Nein, es handelt sich vielmehr um eine andere Ausdrucksweise dessen, was Familie ist. Und auch sie lässt sich aus dem vierten Gebot ableiten.
Dies ist eine Wahrheit, die vertieft zu werden verdient: Sie unterstreicht nämlich die Wichtigkeit dieses Gebots auch für das moderne System der Menschenrechte. Die institutionellen Anordnungen gebrauchen die Rechtssprache. Gott hingegen sagt: »Ehre!« Sämtliche »Menschenrechte« sind letzten Endes hinfällig und wirkungslos, wenn ihrer Grundlage der Imperativ »ehre!« fehlt; mit anderen Worten, wenn die Anerkennung des Menschen durch die einfache Tatsache, dass er Mensch, »dieser« Mensch ist, fehlt. Rechte allein genügen nicht.
Es ist daher nicht übertrieben, zu bekräftigen, dass das Leben der Nationen, der Staaten, der internationalen Organisationen durch die Familie »hindurchgeht« und sich auf das vierte Gebot des Dekalogs »gründet«. Trotz der vielfachen Erklärungen rechtlicher Art, die erarbeitet wurden, bleibt, als Ergebnis der »aufklärerischen« Prämissen, wonach der Mensch »mehr« Mensch ist, wenn er »nur« Mensch ist, unsere heutige Zeit in beachtlichem Ausmaß von der »Entfremdung« bedroht. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die Entfremdung von all dem, was in verschiedener Form so sehr zum vollen Reichtum gehört, unsere Zeit gefährdet. Und das zieht die Familie mit hinein. Denn die Bejahung der Person ist in hohem Maße auf die Familie und infolgedessen auf das vierte Gebot bezogen. In Gottes Plan ist die Familie in verschiedener Hinsicht die erste Schule des Menschen. Sei Mensch! Dies ist der Imperativ, der in ihr vermittelt wird: Mensch als Sohn oder Tochter der Heimat, als Bürger des Staates und, so würde man heute sagen, als Bürger der Welt. Er, der der Menschheit das vierte Gebot gegeben hat, ist ein dem Menschen gegenüber »wohlwollender« Gott (philanthropos, wie die Griechen sagten). Der Schöpfer des Universums ist der Gott der Liebe und des Lebens: Er will, dass der Mensch das Leben habe und es in Fülle habe, wie Christus sagt (vgl. Joh 10,10): dass er das Leben vor allem dank der Familie habe.
Hier zeigt sich klar, dass die »Zivilisation der Liebe« eng mit der Familie verbunden ist. Für viele stellt die Zivilisation der Liebe noch eine reine Utopie dar. Man meint in der Tat, dass Liebe niemandem abverlangt und niemandem auferlegt werden könne: Es handele sich um eine freie Entscheidung, die die Menschen annehmen oder zurückweisen können.
An all dem ist etwas Wahres. Und doch bleibt die Tatsache bestehen, dass Jesus Christus uns das Gebot der Liebe hinterlassen hat, so wie Gott auf dem Berg Sinai geboten hatte: »Ehre deinen Vater und deine Mutter.« Die Liebe ist daher nicht eine Utopie: Sie ist dem Menschen als eine mit Hilfe der göttlichen Gnade zu erfüllende Aufgabe gegeben. Sie wird dem Mann und der Frau im Ehesakrament als Prinzip und Quelle ihrer »Pflicht« anvertraut und wird für sie zum Fundament der gegenseitigen Verpflichtung: zuerst der ehelichen, dann der elterlichen. In der Feier des Sakraments schenken und empfangen die Ehegatten sich gegenseitig, indem sie ihre Bereitschaft erklären, die Kinder anzunehmen und zu erziehen. Hier liegen die Angelpunkte der menschlichen Zivilisation, die nicht anders definiert werden kann denn als »Zivilisation der Liebe«.
Ausdruck und Quelle dieser Liebe ist die Familie. Durch sie geht der Hauptstrom der Zivilisation der Liebe hindurch, der in ihr ihre »sozialen Grundlagen« sucht.
Die Kirchenväter haben im Zuge der christlichen Überlieferung von der Familie als »Hauskirche«, als »kleiner Kirche«, gesprochen. Sie bezogen sich somit auf die Zivilisation der Liebe als auf ein mögliches System des Lebens und des menschlichen Zusammenlebens. »Zusammensein« als Familie, einer für den anderen da sein, einen gemeinschaftlichen Raum schaffen für die Bejahung jedes Menschen als solchen, für die Bejahung »dieses« konkreten Menschen. Manchmal handelt es sich um Personen mit physischen oder psychischen Behinderungen, von denen sich die sogenannte »Fortschritts«-Gesellschaft lieber befreit. Auch die Familie kann einer solchen Gesellschaft ähnlich werden. Sie wird es tatsächlich, wenn sie sich auf schnellstem Wege von denen befreit, die alt oder von Missbildungen oder Krankheiten betroffen sind. Sie handelt so, weil der Glaube an jenen Gott abnimmt, nach dessen Willen »alle lebendig« (Lk 20,38) und alle in Ihm zur Fülle des Lebens berufen sind.
Ja, die Zivilisation der Liebe ist möglich, sie ist keine Utopie. Sie ist jedoch nur möglich durch einen ständigen und lebendigen Bezug zu »Gott, dem Vater unseres Herrn Jesus Christus, nach dessen Namen jedes Geschlecht im Himmel und auf der Erde benannt wird« (vgl. Eph 3,14–15), von dem jede menschliche Familie hervorgeht.
Die Erziehung
16. Worin besteht die Erziehung? Um diese Frage zu beantworten, werden zwei grundlegende Wahrheiten in Erinnerung gebracht: Die erste ist, dass der Mensch zum Leben in der Wahrheit und in der Liebe berufen ist; die zweite Grundwahrheit besagt, dass sich jeder Mensch durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst verwirklicht. Das gilt sowohl für den Erzieher wie für den, der erzogen wird. Die Erziehung stellt demnach einen einzigartigen Prozess dar, in dem die gegenseitige Gemeinsamkeit der Personen höchst bedeutsam ist. Der Erzieher ist eine in geistigem Sinne »zeugende« Person. In dieser Sicht kann die Erziehung als echtes und eigentliches Apostolat angesehen werden. Sie ist eine lebenschaffende Verbindung, die nicht nur eine tiefgreifende Beziehung zwischen Erzieher und zu Erziehendem herstellt, sondern diese beiden an der Wahrheit und an der Liebe teilhaben lässt, dem Endziel, zu dem jeder Mensch von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist berufen ist.
Die Elternschaft setzt die Koexistenz und Interaktion autonomer, selbständiger Subjekte voraus. Das wird in höchstem Maße an der Mutter offenkundig, wenn sie ein neues menschliches Wesen empfängt. Die ersten Monate seiner Gegenwart im Mutterschoß schaffen eine besondere Bindung, die bereits jetzt einen erzieherischen Wert annimmt. Die Mutter baut bereits in der vorgeburtlichen Phase nicht nur den Organismus des Kindes, sondern indirekt seine ganze Menschlichkeit auf. Auch wenn es sich um einen Prozess handelt, der sich von der Mutter auf das Kind richtet, darf der besondere Einfluss, den das Ungeborene auf die Mutter ausübt, nicht vergessen werden. An diesem wechselseitigen Einfluss, der draußen nach der Geburt des Kindes offenbar werden wird, nimmt der Vater nicht direkt teil. Er soll sich jedoch verantwortlich darum bemühen, während der Schwangerschaft und, wenn möglich, auch bei der Niederkunft seine Aufmerksamkeit und seinen Beistand anzubieten.
Für die »Zivilisation der Liebe« kommt es wesentlich darauf an, dass der Mann die Mutterschaft der Frau, seiner Ehefrau, als Geschenk empfindet: denn dies wirkt sich außerordentlich auf den gesamten Erziehungsprozess aus. Es hängt viel von der Bereitschaft ab, in richtiger Weise an dieser ersten Phase des Geschenks des Menschseins teilzunehmen und sich als Ehemann und Vater in die Mutterschaft der Frau hineinversetzen zu lassen.
Die Erziehung ist in dem Augenblick vor allem eine „Beschenkung“ mit Menschlichkeit seitens beider Elternteile. Sie vermitteln gemeinsam ihre reife Menschlichkeit an das Neugeborene, das seinerseits ihnen die Neuheit und Frische der Menschlichkeit schenkt, die es in die Welt mitbringt. Das geschieht auch im Fall von Kindern, die von geistigen und körperlichen Behinderungen gezeichnet sind: ja, in diesem Fall kann ihre Situation eine ganz besondere erzieherische Kraft entfalten.
Mit Recht richtet daher die Kirche bei der Brautmesse an das Brautpaar die Frage: »Seid ihr bereit, die Kinder, die Gott euch schenken will, anzunehmen und sie im Geiste Christi und seiner Kirche zu erziehen?« (Rituale Romanum, «Ordo celebrandi matrimonium», n. 60, editio typica altera, S. 17). Die eheliche Liebe drückt sich in der Erziehung als wahre Elternliebe aus. Die »Personengemeinschaft«, die am Beginn der Familie als eheliche Liebe zum Ausdruck kommt, vervollständigt und vervollkommnet sich mit der Erziehung, die auf die Kinder ausgeweitet wird. Der potentielle Reichtum, den jeder Mensch darstellt, der in der Familie geboren wird und heranwächst, wird verantwortlich angenommen, so dass er nicht entartet und verlorengeht, sondern sich im Gegenteil in einer immer reiferen Menschlichkeit verwirklicht. Auch das ist ein wechselseitiger dynamischer Prozess, in welchem die Eltern als Erzieher ihrerseits gewissermaßen erzogen werden. Als Lehrer ihrer Kinder in Menschlichkeit lernen sie auch von ihnen. Hier wird die organische Struktur der Familie deutlich sichtbar, und es offenbart sich die Grundbedeutung des vierten Gebotes.
Das „Wir“ der Eltern, des Ehemannes und der Ehefrau, entfaltet sich durch die Erziehung im „Wir“ der Familie, die sich in die voraufgehenden Generationen einfügt, aber offen ist für eine schrittweise und fortschreitende Erweiterung. Eine besondere Rolle spielen in diesem Zusammenhang einerseits die Eltern der Eltern und andererseits die Kindeskinder.
Wenn die Eltern im Weiterschenken des Lebens am Schöpfungswerk Gottes teilnehmen, haben sie vermittels der Erziehung Anteil an seiner väterlichen und zugleich mütterlichen Erziehung. Die göttliche Vaterschaft stellt nach dem hl. Paulus das urgründliche Vorbild jeder Elternschaft im Kosmos dar (vgl. Eph 3,14–15), insbesondere der menschlichen Vater- und Mutterschaft. Über die göttliche Erziehung hat uns auf vollkommene Weise das ewige Wort des Vaters belehrt, das in seiner Menschwerdung dem Menschen die wahre und vollständige Dimension seines Menschseins enthüllt hat: die Gotteskindschaft. Und so hat es auch bekanntgemacht, worin die wahre Bedeutung der Erziehung des Menschen besteht. Durch Christus wird alle Erziehung, innerhalb der Familie wie außerhalb, in die heilschaffende Dimension der göttlichen Pädagogik hineingestellt, die auf die Menschen und auf die Familien ausgerichtet ist und ihren Gipfel findet im österlichen Geheimnis von Tod und Auferstehung des Herrn. Von diesem »Herzen« unserer Erlösung nimmt jeder christliche Erziehungsprozess seinen Ausgang, der zu gleicher Zeit immer Erziehung zu voller Menschlichkeit ist.
Die Eltern sind die ersten und hauptsächlichen Erzieher der eigenen Kinder und haben auch in diesem Bereich grundlegende Zuständigkeit: Sie sind Erzieher, weil sie Eltern sind. Sie teilen ihren Erziehungsauftrag mit anderen Personen und Institutionen wie der Kirche und dem Staat; dies muss jedoch immer in korrekter Anwendung des Prinzips der Subsidiarität geschehen. Dieses impliziert die Legitimität, ja die Verpflichtung, den Eltern Hilfe anzubieten, findet jedoch in deren vorgängigem Recht und in ihren tatsächlichen Möglichkeiten aus sich heraus seine unüberschreitbare Grenze. Das Prinzip der Subsidiarität stellt sich also in den Dienst der Liebe der Eltern und kommt dem Wohl der Familie in ihrem Innersten entgegen. In der Tat sind die Eltern nicht in der Lage, allein jedem Erfordernis des gesamten Erziehungsprozesses zu entsprechen, insbesondere was die Ausbildung und das breite Feld der Sozialisation betrifft. So vervollständigt die Subsidiarität die elterliche Liebe, indem sie deren Grundcharakter bestätigt, denn jeder andere Mitwirkende am Erziehungsprozess kann nur im Namen der Eltern, auf Grund ihrer Zustimmung, und in einem gewissen Maße sogar in ihrem Auftrag tätig werden.
Der Weg der Erziehung führt auf die Phase der Selbsterziehung zu, die erreicht wird, wenn sich der Mensch dank eines entsprechenden Niveaus psychophysischer Reife „allein zu erziehen“ beginnt. Mit der Zeit geht die Selbsterziehung über die vorher im Erziehungsprozess erreichten Ziele hinaus, in dem sie aber weiterhin verwurzelt bleibt. Der Heranwachsende begegnet neuen Personen und neuen Milieus, im Besonderen den Lehrern und Mitschülern, die auf sein Leben einen Einfluss ausüben, der sich als erzieherisch oder erziehungsfeindlich erweisen kann. In dieser Entwicklungsphase löst sich der Jugendliche bis zu einem gewissen Grad von der in der Familie empfangenen Erziehung und nimmt manchmal den Eltern gegenüber eine kritische Haltung ein. Trotz allem jedoch wird der Selbsterziehungsprozess von dem erzieherischen Einfluss, der von der Familie und von der Schule auf das Kind und auf den Jugendlichen ausgeübt wird, gekennzeichnet bleiben. Selbst wenn sich der Jugendliche wandelt und einen Weg in der eigenen Richtung einschlägt, bleibt er weiterhin mit seinen existentiellen Wurzeln zutiefst verbunden.
Vor diesem Hintergrund zeichnet sich auf neue Weise die Bedeutung des vierten Gebotes ab: »Ehre deinen Vater und deine Mutter« (Ex 20,12); es bleibt mit dem ganzen Erziehungsprozess organisch verbunden. Die Elternschaft, diese erste und fundamentale Gegebenheit bei der Weitergabe des Menschseins, eröffnet vor den Eltern und Kindern neue und noch tiefgreifendere Perspektiven. Fleischlich zeugen heißt, durch den ganzen Erziehungsprozess eine weitere »Generation«, stufenweise und umfassend, in Gang zu setzen. Das vierte der Zehn Gebote verlangt vom Kind, dass es den Vater und die Mutter ehrt. Aber wie oben gesagt, erlegt dasselbe Gebot den Eltern eine in gewissem Sinne »symmetrische« Pflicht auf. Auch sie müssen ihre Kinder, sowohl kleine wie große, »ehren«, eine unerlässliche Haltung auf dem gesamten Erziehungsweg, einschließlich dem der Schulzeit. Das »Prinzip der Ehrerbietung«, das heißt die Anerkennung und Respektierung des Menschen als Menschen, ist die grundlegende Voraussetzung für jeden echten Erziehungsprozess.
Im Bereich der Erziehung hat die Kirche eine eigene Rolle zu erfüllen. Im Lichte der Tradition und des Konzilslehramtes kann man sagen, dass es nicht nur darum geht, der Kirche die religiöse und sittliche Erziehung des Menschen anzuvertrauen, sondern „zusammen mit“ der Kirche den gesamten Erziehungsprozess der Person zu fördern. Die Familie ist aufgerufen, ihre Erziehungsaufgabe »innerhalb der Kirche« durchzuführen und auf diese Weise am kirchlichen Leben und an ihrer Sendung teilzunehmen. Die Kirche möchte vor allem durch die Familie erziehen, die dazu durch das Sakrament der Ehe befähigt ist, mit der „Standesgnade“, die sie daraus erlangt, und mit dem spezifischen „Charisma“, das der gesamten Familiengemeinschaft eigen ist.
Ein Bereich, wo die Familie unersetzlich ist, ist sicherlich die religiöse Erziehung, dank welcher die Familie als »Hauskirche« wächst. Die religiöse Erziehung und die Katechese der Kinder stellen die Familie als ein echtes Subjekt der Evangelisierung und des Apostolats in den Bereich der Kirche. Es handelt sich um ein Recht, das zutiefst mit dem Prinzip der Religionsfreiheit verbunden ist. Die Familien, und konkreter die Eltern, haben die freie Ermächtigung, für ihre Kinder eine bestimmte, ihren eigenen Überzeugungen entsprechende Form religiöser und sittlicher Erziehung zu wählen. Doch auch wenn sie diese Aufgaben kirchlichen Institutionen oder von Ordenspersonal geführten Schulen anvertrauen, ist es notwendig, dass ihre erzieherische Präsenz weiterhin beständig und aktiv ist.
Nicht übergangen werden darf im Rahmen der Erziehung auch die wesentliche Frage der Wahl einer Berufung, und dabei insbesondere die der Vorbereitung auf das Eheleben. Beachtlich sind die von der Kirche durchgeführten Anstrengungen und Initiativen für die Ehevorbereitung, z.B. in Form von Kursen und Tagungen, die für die Brautleute durchgeführt werden. Das alles ist wirkungsvoll und notwendig. Es darf aber nicht vergessen werden, dass die Vorbereitung auf das künftige Eheleben vor allem Aufgabe der Familie ist. Gewiss können sich nur die in geistlicher Hinsicht gereiften Familien dieser Aufgabe in angemessener Weise stellen. Und darum muss die Forderung nach einer besonderen Solidarität zwischen den Familien unterstrichen werden, die sich durch verschiedene Organisationsformen, wie die Vereinigungen von Familien für Familien, äußern kann. Die Institution Familie schöpft Kraft aus dieser Solidarität, die nicht nur einzelne Personen, sondern auch die Gemeinschaften einander näherbringt und sie dazu anhält, miteinander zu beten und durch den Beitrag aller nach Antworten auf die wesentlichen Fragen zu suchen, die im Leben auftauchen. Ist das nicht eine wertvolle Form von Apostolat der Familien untereinander? Es ist wichtig, dass die Familien untereinander Solidaritätsbande aufzubauen versuchen. Dies ermöglicht ihnen außerdem, sich gegenseitig bei der Erziehung zu helfen: Die Eltern werden durch andere Eltern erzogen, die Kinder durch die Kinder. Auf diese Weise entsteht eine eigene Erziehungstradition, die aus der Wesenseigenschaft der »Hauskirche«, die der Familie eigen ist, Kraft schöpft.
Das Evangelium der Liebe ist die unerschöpfliche Quelle all dessen, von dem sich die menschliche Familie als »Personengemeinschaft« nährt. In der Liebe findet der ganze Erziehungsprozess Unterstützung und endgültigen Sinn als reife Frucht der gegenseitigen Hingabe der Eltern. Durch die Mühen, die Leiden und die Enttäuschungen, die die Erziehung des Menschen begleiten, wird die Liebe unaufhörlich einer beständigen Prüfung unterzogen. Um diese Probe zu bestehen, bedarf es einer Quelle geistlicher Kraft, die nur bei dem zu finden ist, der »liebte bis zur Vollendung« (Joh 13,1). Somit ordnet sich die Erziehung vollkommen in den Horizont der »Zivilisation der Liebe« ein; von ihr hängt sie ab und trägt in hohem Maße zu ihrem Aufbau bei.
Das unaufhörliche und zuversichtliche Gebet der Kirche während des Jahres der Familie gilt der Erziehung des Menschen, damit die Familien in dem Bemühen um Erziehung trotz aller mitunter so groß und unüberwindbar erscheinenden Schwierigkeiten mit Mut, Vertrauen und Hoffnung fortfahren. Die Kirche betet darum, dass die aus der Quelle der göttlichen Liebe entspringenden Kräfte der »Zivilisation der Liebe« siegen; Kräfte, die die Kirche unaufhörlich zum Wohl der ganzen Menschheitsfamilie einsetzt.
Die Familie und die Gesellschaft
17. Die Familie ist eine Gemeinschaft von Personen, die kleinste soziale Zelle und als solche eine für das Leben jeder Gesellschaft fundamentale Institution.
Was erwartet die Familie als Institution von der Gesellschaft? Vor allem in ihrer Identität anerkannt und in ihrer sozialen Subjektivität angenommen zu werden. Diese Subjektivität ist an die Identität gebunden, die der Ehe und der Familie eigen ist. Die Ehe, die der Familie als Institution zugrunde liegt, wird durch den Bund hergestellt, mit dem »Mann und Frau unter sich die Gemeinschaft des ganzen Lebens begründen, welche durch ihre natürliche Eigenart auf das Wohl der Ehegatten und auf die Zeugung und die Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet ist« (Codex Iuris Canonici, can. 1055, 1; Katechismus der Katholischen Kirche, n. 1601). Nur eine solche Verbindung kann als „Ehe“ in der Gesellschaft anerkannt und bestätigt werden. Nicht können dies die anderen zwischenmenschlichen Verbindungen, die den oben in Erinnerung gebrachten Bedingungen nicht entsprechen, auch wenn sich heute über diesen Punkt Tendenzen verbreiten, die für die Zukunft der Familie und selbst der Gesellschaft sehr gefährlich sind.
Keine menschliche Gesellschaft darf sich in Grundfragen, die das Wesen der Ehe und Familie betreffen, in die Gefahr des Permissivismus begeben! Ein ähnlicher moralischer Permissivismus muss den authentischen Erfordernissen des Friedens und der Gemeinschaft unter den Menschen Schaden zufügen. Es ist somit begreiflich, warum die Kirche die Authentizität der Familie verteidigt und die zuständigen Institutionen, insbesondere die verantwortlichen Politiker, wie auch die internationalen Organisationen dazu anregt, nicht der Versuchung einer scheinbaren und falschen Modernität nachzugeben.
Als Liebes- und Lebensgemeinschaft ist die Familie eine tief verwurzelte soziale Realität und in ganz besonderer Weise eine, wenn auch in verschiedener Hinsicht bedingte, souveräne Gesellschaft. Die Bejahung der Souveränität der Institution Familie und die Anerkennung ihrer vielfältigen Bedingtheiten veranlasst dazu, von den Rechten der Familie zu reden. Diesbezüglich hat der Heilige Stuhl im Jahre 1983 die Charta der Familienrechte veröffentlicht, die auch heute ihre ganze Aktualität behält.
Die Rechte der Familie sind eng verknüpft mit den Menschenrechten: Wenn nämlich die Familie Personengemeinschaft ist, so hängt ihre Selbstverwirklichung ganz maßgebend von der gerechten Anwendung der Rechte der sie bildenden Personen ab. Einige dieser Rechte betreffen unmittelbar die Familie, wie das Recht der Eltern auf verantwortete Zeugung und Erziehung des Nachwuchses; andere Rechte hingegen betreffen auf nur indirekte Weise den Familienkern: darunter sind von besonderer Bedeutung: das Recht auf Eigentum, besonders auf das sogenannte Familieneigentum, und das Recht auf Arbeit.
Die Rechte der Familie sind jedoch nicht einfach die mathematische Summe der Rechte der Personen, ist doch die Familie etwas mehr als die Summe ihrer einzeln genommenen Mitglieder. Sie ist Gemeinschaft von Eltern und Kindern; mitunter Gemeinschaft mehrerer Generationen. Darum schafft ihre Subjektivität, die sich auf der Grundlage des Planes Gottes aufbaut, die Grundlage ihrer eigenen und spezifischen Rechte und fordert sie. Die Charta der Familienrechte, ausgehend von den genannten Moralprinzipien, festigt die Existenz der Institution Familie innerhalb der Sozial- und Rechtsordnung der »großen« Gesellschaft: der Nation, des Staates und der internationalen Gemeinschaften. Jede dieser »großen« Gesellschaften ist zumindest indirekt von der Existenz der Familie abhängig und beeinflusst; deshalb ist die Definition von Aufgaben und Pflichten der »großen« Gesellschaft gegenüber der Familie eine äußerst wichtige und wesentliche Frage.
An erster Stelle steht die nahezu organische Bindung zwischen Familie und Nation. Natürlich kann man nicht in jedem Fall von Nation im eigentlichen Sinn sprechen. Dennoch gibt es ethnische Gruppen, die sich zwar nicht als wirkliche Nationen betrachten können, aber in gewissem Maße die Funktion einer „großen“ Gesellschaft erfüllen. Sowohl bei der einen wie bei der anderen Annahme beruht die Bindung der Familie zur ethnischen Gruppe oder zur Nation vor allem auf der Teilnahme an der Kultur. Die Eltern zeugen die Kinder gewissermaßen auch für die Nation, weil sie deren Mitglieder sind und an ihrem Geschichts- und Kulturerbe teilhaben. Von Anfang an zeichnet sich die Identität der Familie gewissermaßen auf Grund der Identität der Nation ab, der sie angehört.
Durch ihre Teilhabe am Kulturerbe der Nation trägt die Familie zu jener besonderen Souveränität bei, die ihrer Kultur und Sprache entspringt. Ich habe über dieses Thema vor der UNESCO-Vollversammlung in Paris im Jahr 1980 gesprochen und bin darauf in Anbetracht seiner unzweifelhaften Bedeutung später wiederholt zurückgekommen. Über die Kultur und die Sprache findet nicht nur die Nation, sondern jede Familie zu ihrer geistigen Souveränität. Anders lieben sich viele Ereignisse der Geschichte der Völker, insbesondere der europäischen, schwer erklären; alte und moderne, herausragende und schmerzliche Geschehnisse, Siege und Niederlagen, an denen sichtbar wird, wie organisch die Familie an die Nation und die Nation an die Familie gebunden ist.
Gegenüber dem Staat ist diese Bindung der Familie zum Teil ähnlich und zum Teil andersartig. Der Staat unterscheidet sich nämlich von der Nation durch seine weniger »familiäre« Struktur, die wie ein politisches System und eher »bürokratisch« organisiert ist. Nichtsdestoweniger besitzt auch das staatliche System in gewissem Sinn seine »Seele« in dem Maße, in dem es seinem Wesen als rechtlich geordnete »politische Gemeinschaft« in Hinordnung auf das Gemeinwohl entspricht. Mit dieser »Seele« steht die Familie in engem Zusammenhang, die mit dem Staat eben kraft des Subsidiaritätsprinzips verbunden ist. Die Familie ist in der Tat eine soziale Wirklichkeit, die nicht über alle für die Realisierung ihrer Ziele, auch im Bereich von Unterricht und Erziehung, notwendigen Mittel verfügt. Der Staat ist daher aufgerufen, entsprechend dem erwähnten Prinzip zu intervenieren: Dort, wo die Familie sich selbst genügt, soll man sie selbständig handeln lassen; ein überzogenes Eingreifen des Staates würde sich als schädlich und über eine Missachtung hinaus als eine offene Verletzung der Rechte der Familie erweisen; nur dort, wo sie selbst wirklich nicht hinreichend ist, hat der Staat die Möglichkeit und die Pflicht zum Eingreifen.
Abgesehen vom Bereich der Erziehung und des Unterrichts auf allen Stufen findet die staatliche Hilfe, die Initiativen von Privaten jedenfalls nicht ausschließen darf, zum Beispiel in den Einrichtungen ihren Ausdruck, deren Ziel und Zweck es ist, das Leben und die Gesundheit der Bürger zu schützen, und besonders in den die Arbeitswelt betreffenden Vorsorgemaßnahmen. Die Arbeitslosigkeit stellt in unseren Tagen eine der ernstesten Bedrohungen für das Familienleben dar und erfüllt zu Recht alle Gesellschaften mit Sorge. Sie stellt eine Herausforderung für die Politik der einzelnen Staaten und einen Gegenstand aufmerksamen Nachdenkens für die Soziallehre der Kirche dar. Es ist daher unerlässlicher und dringender denn je, hier mit mutigen Lösungen Abhilfe zu schaffen, die auch über nationale Grenzen hinauszublicken verstehen zu den vielen Familien, für die das Fehlen von Arbeit zu einem dramatischen Elend wird.
Wenn von der Arbeit in Bezug auf die Familie gesprochen wird, ist es richtig, die Bedeutung und die Belastung der Arbeitstätigkeit der Frauen innerhalb der Kernfamilie hervorzuheben: Sie müsste in höchstem Maße anerkannt und aufgewertet werden. Die „Mühen“ der Frau, die, nachdem sie ein Kind zur Welt gebracht hat, dieses nährt und pflegt und sich besonders in den ersten Jahren um seine Erziehung kümmert, sind so groß, dass sie den Vergleich mit keiner Berufsarbeit zu fürchten brauchen. Das wird klar anerkannt und nicht weniger geltend gemacht als jedes andere mit der Arbeit verbundene Recht. Die Mutterschaft und all das, was sie an Mühen mit sich bringt, muss auch eine ökonomische Anerkennung erhalten, die wenigstens der anderer Arbeiten entspricht, von denen die Erhaltung der Familie in einer derart heiklen Phase ihrer Existenz abhängt.
Es muss jede Anstrengung unternommen werden, damit sie als anfängliche Gesellschaft und in gewissem Sinn als „souverän“ anerkannt wird! Ihre »Souveränität« ist für das Wohl der Gesellschaft unerlässlich. Eine wahrhaft souveräne und geistig starke Nation besteht immer aus starken Familien, die sich ihrer Berufung und ihrer Sendung in der Geschichte bewusst sind. Die Familie steht im Zentrum aller dieser Probleme und Aufgaben: Sie in eine untergeordnete und nebensächliche Rolle zu versetzen, sie aus der ihr in der Gesellschaft gebührenden Stellung auszuschließen, heißt, dem echten Wachstum des gesamten Sozialgefüges einen schweren Schaden zufügen.
II.
DER BRÄUTIGAM IST BEI EUCH
Zu Kana in Galiläa
18. Im Gespräch mit den Jüngern des Johannes spielt Jesus eines Tages auf die Einladung zu einer Hochzeit und auf die Anwesenheit des Bräutigams unter den Hochzeitsgästen an: »Der Bräutigam ist bei ihnen« (Mt 9,15). Er wies so auf die Erfüllung des Bildes vom göttlichen Bräutigam in seiner Person hin, das bereits im Alten Testament benutzt wurde, um das Geheimnis Gottes als Geheimnis der Liebe vollkommen zu enthüllen.
Dadurch, dass er sich als „Bräutigam“ bezeichnete, enthüllt Jesus also das Wesen Gottes und bekräftigt seine unendliche Liebe zum Menschen. Doch wirft die Wahl dieses Bildes indirekt auch ein Licht auf die tiefe Wahrheit der ehelichen Liebe. Während er es in der Tat dazu benutzt, um von Gott zu sprechen, zeigt Jesus, wieviel Väterlichkeit und wieviel Liebe Gottes sich in der Liebe eines Mannes und einer Frau widerspiegeln, die sich in der Ehe vereinen. Dazu ist Jesus am Beginn seiner Sendung in Kana in Galiläa, um zusammen mit Maria und den ersten Jüngern an einem Hochzeitsmahl teilzunehmen (vgl. Joh 2,1–11). Er will auf diese Weise zeigen, wie tief die Wahrheit der Familie in die Offenbarung Gottes und in die Heilsgeschichte eingeschrieben ist. Im Alten Testament und besonders bei den Propheten stehen sehr schöne Worte über die Liebe Gottes: eine zuvorkommende Liebe wie diejenige einer Mutter zu ihrem Kind, zartfühlend wie die des Bräutigams zur Braut, aber gleichzeitig ebenso zutiefst eifersüchtig; nicht in erster Linie eine Liebe, die bestraft, sondern vergibt; eine Liebe, die sich, wie die zwischen dem Vater und dem verschwenderischen Sohn, zum Menschen hinabbeugt und ihn aufrichtet, indem sie ihn am göttlichen Leben teilhaben lässt. Eine Liebe, die in Erstaunen versetzt: eine Neuheit, die der ganzen heidnischen Welt bis dahin unbekannt gewesen war.
In Kana in Galiläa ist Jesus Verkünder der göttlichen Wahrheit über die Ehe; der Wahrheit, auf die sich die menschliche Familie stützen und von der sie sich gegen alle Prüfungen des Lebens stärken lassen kann. Jesus verkündet diese Wahrheit mit seiner Anwesenheit bei der Hochzeit von Kana und durch das erste von ihm gewirkte „Zeichen“: das zu Wein verwandelte Wasser.
Wiederum verkündet er die Wahrheit über die Ehe, als er im Gespräch mit den Pharisäern diesen erklärt, daß die Liebe, die von Gott ist, die zarte und bräutliche Liebe, Quelle von grundlegenden und tiefgreifenden Anforderungen ist. Weniger anspruchsvoll war Mose gewesen, der erlaubt hatte, eine Scheidungsurkunde auszustellen. Als sich die Pharisäer in der bekannten Auseinandersetzung auf Mose berufen, antwortet Christus entschieden: »Im Anfang war das nicht so« (Mt 19,8). Und er ruft ihnen in Erinnerung: Der Schöpfer des Menschen hat diesen als Mann und Frau geschaffen und bestimmt: »Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und die zwei werden ein Fleisch« (Gen 2,24). Mit logischer Konsequenz zieht Christus den Schluss: »Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen« (Mt 19,6). Auf den Einwand der Pharisäer, die sich auf das mosaische Gesetz stützen, antwortet er: »Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war das nicht so« (Mt 19, 8).
Jesus beruft sich auf den »Anfang« und findet in den Ursprüngen der Schöpfung selbst den Plan Gottes wieder, auf den sich die Familie und durch sie die gesamte Geschichte der Menschheit stützt. Die natürliche Wirklichkeit der Ehe wird nach dem Willen Christi zum wahren und eigentlichen Sakrament des Neuen Bundes, das mit dem Siegel des Blutes des Erlösers Christus versehen ist. Eheleute und Familien, erinnert euch, um welchen Preis ihr »erkauft« worden seid! (vgl. 1 Kor 6,20).
Es ist jedoch von seiten des Menschen her schwer, diese wunderbare Wahrheit aufzunehmen und zu leben. Wie sollte man sich darüber wundern, dass Mose den Forderungen seiner Landsleute nachgab, wenn selbst die Apostel, als sie die Worte des Meisters hörten, antworteten: »Wenn das die Stellung des Mannes in der Ehe ist, dann ist es nicht gut zu heiraten« (Mt 19,10)! Trotzdem bekräftigt Jesus, um des Wohles des Mannes und der Frau, der Familie und der ganzen Gesellschaft willen, die von Gott von Anfang an gestellte Forderung. Gleichzeitig jedoch nimmt er die Gelegenheit wahr, um den Wert der Entscheidung zur Ehelosigkeit im Hinblick auf das Reich Gottes geltend zu machen: Auch diese Entscheidung lässt »Zeugung« zu, wenn auch auf andere Art. Von dieser Entscheidung nehmen das geweihte Leben, die Orden und die religiösen Kongregationen im Orient und im Abendland ebenso ihren Ausgang wie die Regelung des priesterlichen Zölibats gemäß der Tradition der lateinischen Kirche. Es ist also nicht wahr, dass »es nicht gut ist zu heiraten«, aber die Liebe für das Himmelreich kann einen auch dazu bringen, nicht zu heiraten (vgl. Mt 19,12).
Zu heiraten bleibt dennoch die gewöhnliche Berufung des Menschen, die vom größten Teil des Gottesvolkes wahrgenommen wird. In der Familie bilden sich die lebendigen Steine des geistigen Hauses heraus, von denen der Apostel Petrus spricht (vgl. 1 Petr 2,5). Die Körper der Eheleute sind Wohnstatt des Heiligen Geistes (vgl. 1 Kor 6,19). Da die Weitergabe des göttlichen Lebens jene des menschlichen Lebens voraussetzt, werden in der Ehe nicht nur die Kinder der Menschen geboren, sondern kraft der Taufe auch Adoptivkinder Gottes, die von dem neuen Leben leben, das sie von Christus durch seinen Geist empfangen.
Auf diese Weise, liebe Brüder und Schwestern, Eheleute und Eltern, ist der Bräutigam bei euch. Ihr wisst, dass Er der Gute Hirte ist, und ihr kennt seine Stimme. Ihr wisst, wohin Er euch führt, wie Er kämpft, um euch die Weiden zu verschaffen, auf denen ihr das Leben findet und es in Fülle findet; ihr wisst, dass Er sich den raubgierigen Wölfen entgegenstellt, stets bereit, ihrem Rachen die Schafe zu entreißen: jeden Ehemann und jede Ehefrau, jeden Sohn und jede Tochter, jedes Mitglied eurer Familien. Ihr wisst, dass Er als Guter Hirte bereit ist, sein Leben hinzugeben für die Herde (vgl. Joh 10,11). Er führt euch Wege, die nicht jene abschüssigen und heimtückischen vieler moderner Ideologien sind; Er wiederholt die Wahrheit unverkürzt für die heutige Welt, so wie Er sich an die Pharisäer wandte, wie Er sie den Aposteln verkündete, die sie dann in der Welt verkündeten, indem sie sie den Menschen ihrer Zeit, Juden wie Griechen, verkündeten. Die Jünger waren sich wohl bewusst, dass Christus alles neu gemacht hatte; dass der Mensch zu einer »neuen Schöpfung« geworden war: nicht mehr Jude und Grieche, nicht mehr Sklave und Freier, nicht mehr Mann und Frau, sondern »einer« in Ihm (vgl. Gal 3,28), ausgezeichnet mit der Würde eines Adoptivkindes Gottes. Am Pfingsttag hat dieser Mensch den Tröstergeist, den Geist der Wahrheit, empfangen; so begann das neue Volk Gottes, die Kirche, als Vorwegnahme eines neuen Himmels und einer neuen Erde (vgl. Offb 21,1).
Die Apostel, die zuerst auch in Bezug auf Ehe und Familie ängstlich gewesen waren, sind mutig geworden. Sie haben begriffen, dass Ehe und Familie eine echte, von Gott selbst stammende Berufung darstellen, ein Apostolat sind: das Apostolat der Laien. Sie dienen der Umgestaltung der Erde und der Erneuerung der Welt, der Schöpfung und der gesamten Menschheit.
Liebe Familien, auch ihr müsst mutig sein, stets bereit, Zeugnis zu geben von jener Hoffnung, die euch erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15), weil sie euch vom Guten Hirten durch das Evangelium ins Herz gepflanzt wurde. Ihr müsst bereit sein, Christus zu jenen Weiden zu folgen, die das Leben geben und die Er selbst mit dem österlichen Geheimnis seines Todes und seiner Auferstehung bereitet hat.
Habt keine Angst vor Gefahren! Die göttlichen Kräfte sind weitaus mächtiger als eure Schwierigkeiten! Unermesslich größer als das Böse, das in der Welt Fuß fasst, ist die Wirksamkeit des Sakraments der Wiederversöhnung, das von den Kirchenvätern nicht zufällig »zweite Taufe« genannt wird. Viel ausgeprägter als die Verderbtheit, die in der Welt gegenwärtig ist, ist die göttliche Kraft des Sakraments der Firmung, die die Taufe zur Reifung bringt. Unvergleichlich größer ist vor allem die Macht der Eucharistie.
Die Eucharistie ist ein wahrhaft wunderbares Sakrament. In ihm hat Christus sich selbst uns als Speise und Trank, als Quelle heilbringender Kraft hinterlassen. Er hat sich selbst uns hinterlassen, damit wir das Leben haben und es in Fülle haben (vgl. Joh 10,10): das Leben, das in Ihm ist und das Er uns mit der Gabe des Heiligen Geistes in der Auferstehung am dritten Tag nach seinem Tod mitgeteilt hat. Denn das Leben, das von Ihm kommt, ist in der Tat für uns. Es ist für euch, liebe Eheleute, Eltern und Familien! Hat Er die Eucharistie beim Letzten Abendmahl nicht in einer familiären Umgebung eingesetzt? Wenn ihr euch zu den Mahlzeiten trefft und untereinander einig seid, ist Christus bei euch. Und noch mehr ist Er der Emmanuel, der Gott mit uns, wenn ihr euch zum eucharistischen Mahl begebt. Es kann geschehen, dass man Ihn, wie in Emmaus, erst »beim Brechen des Brotes« erkennt (vgl. Lk 24,35). Es kommt auch vor, dass Er lange vor der Tür steht und anklopft in Erwartung, dass Ihm die Tür geöffnet werde, damit Er eintreten und mit uns Mahl halten kann (vgl. Offb 3,20). Sein letztes Abendmahl und die dabei gesprochenen Worte bewahren die ganze Macht und Weisheit des Opfers am Kreuz. Es gibt keine andere Macht und keine andere Weisheit, durch die wir gerettet werden können und durch die wir zur Rettung der anderen beitragen können. Es gibt keine andere Macht und keine andere Weisheit, durch die ihr, Eltern, eure Kinder und auch euch selbst erziehen könnt. Die erzieherische Macht der Eucharistie hat sich durch die Generationen und Jahrhunderte hindurch bestätigt.
Der Gute Hirte ist überall bei uns. Wie er in Kana in Galiläa als Bräutigam unter den Brautleuten anwesend war, die sich einander für das ganze Leben anvertrauten, so ist der Gute Hirte heute bei euch als Grund der Hoffnung, als Kraft der Herzen, als Quelle immer neuer Begeisterung und als Zeichen für den Sieg der »Zivilisation der Liebe«. Jesus, der Gute Hirte, wiederholt für uns: Fürchtet euch nicht. Ich bin bei euch. »Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt« (Mt 28,20). Woher soviel Kraft nehmen? Woher die Gewissheit nehmen, dass du bei uns bist, obwohl sie dich, Sohn Gottes, getötet haben und du gestorben bist wie jedes andere Menschenwesen? Woher diese Gewissheit? Der Evangelist sagt: »Er liebte sie bis zur Vollendung« (Joh 13,1). Du liebst uns also, Du bist der Erste und der Letzte, der Lebendige; Du warst tot und lebst nun in alle Ewigkeit (vgl. Offb 1,17–18).
Das tiefe Geheimnis
19. Der hl. Paulus fasst das Thema Familienleben mit dem Wort: »tiefes Geheimnis« (Eph 5,32) zusammen. Was er im Brief an die Epheser über dieses »tiefe Geheimnis« schreibt, stellt, auch wenn es im Buch Genesis und in der gesamten Tradition des Alten Testamentes verwurzelt ist, dennoch einen neuen Ansatz dar, der sodann im Lehramt der Kirche seinen Niederschlag finden wird.
Die Kirche bekennt, dass die Ehe als Sakrament des Bundes der Ehegatten ein »tiefes Geheimnis« ist, da sich in ihr die bräutliche Liebe Christi zu seiner Kirche ausdrückt. Der hl. Paulus schreibt: »Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat, um sie im Wasser und durch das Wort rein und heilig zu machen« (Eph 5,25–26). Der Apostel spricht hier von der Taufe, die er im Brief an die Römer ausführlich behandelt und die er als Teilhabe am Tod Christi vorstellt, um sein Leben zu teilen (vgl. Röm 6,3–4). In diesem Sakrament wird der Gläubige als ein neuer Mensch geboren, da der Taufe die Kraft innewohnt, ein neues Leben, das Leben Gottes, selbst zu vermitteln. Das göttlich- menschliche Geheimnis wird in gewissem Sinne im Taufereignis zusammengefasst: »Christus Jesus, unser Herr, Sohn Gottes – werden später der hl. Irenäus und viele andere Kirchenväter im Osten und im Westen sagen –, ist Menschensohn geworden, damit der Mensch Sohn Gottes werden kann« (Irenäus, Adversus Haereses, III, 10, 2: PG 7, 873; SCh 211, 116-119; Athanasius, De Incarnatione Verbi, 54: PG 25, 191-192; Augustinus, Sermo 185, 3: PL 38, 999; Ders., Sermo 194, 3: PL 38, 1016).
Der Bräutigam ist also derselbe Gott, der Mensch geworden ist. Im Alten Bund stellt sich Jahwe als Bräutigam Israels, des auserwählten Volkes, vor: ein zartfühlender und anspruchsvoller, eifersüchtiger und treuer Bräutigam. Alle Fälle vom Verrat, von der Abtrünnigkeit und dem Götzendienst Israels, die von den Propheten mit eindrucksvoller Dramatik beschrieben werden, bringen es nicht zuwege, die Liebe auszulöschen, mit der der Gott-Bräutigam »bis zur Vollendung liebt« (vgl. Joh 13,1).
Die Bestätigung und die Erfüllung der bräutlichen Gemeinschaft zwischen Gott und seinem Volk ereignet sich in Christus, im Neuen Bund. Christus versichert uns, dass der Bräutigam bei uns ist (vgl. Mt 9,15). Er ist bei uns allen, Er ist bei der Kirche. Die Kirche wird zur Braut: Braut Christi. Diese Braut, von der der Epheserbrief spricht, vergegenwärtigt sich in jedem Getauften und ist wie eine Person, die vor dem Blick ihres Bräutigams erscheint: » . . . Wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat (...). So will er die Kirche herrlich vor sich erscheinen lassen, ohne Flecken, Falten oder andere Fehler; heilig soll sie sein und makellos« (Eph 5,25–27). Die Liebe, mit welcher der Bräutigam der Kirche »seine Liebe bis zur Vollendung erwies«, bewirkt, daß sie je neu heilig ist in ihren Heiligen, auch wenn sie weiterhin eine Kirche von Sündern ist. Auch die Sünder, »die Zöllner und Dirnen«, sind zur Heiligkeit berufen, wie Christus selbst im Evangelium bezeugt (vgl. Mt 21,31). Alle sind dazu berufen, herrliche, heilige und makellose Kirche zu werden. »Seid heilig – sagt der Herr –, weil ich heilig bin« (Lev 11,44; vgl. 1 Petr 1,16).
Das ist die erhabenste Dimension des »tiefen Geheimnisses«, die innere Bedeutung der sakramentalen Hingabe in der Kirche, der tiefste Sinn von Taufe und Eucharistie. Sie sind die Früchte der Liebe, mit der der Bräutigam geliebt hat bis zur Vollendung; Liebe, die sich ständig ausweitet, indem sie die Menschen mit wachsender übernatürlicher Teilhabe am göttlichen Leben beschenkt.
Nachdem der hl. Paulus gesagt hat: »Ihr Männer, liebt eure Frauen« (Eph 5,25), fügt er mit noch größerer Nachdrücklichkeit hinzu: »Darum sind die Männer verpflichtet, ihre Frauen so zu lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst. Keiner hat je seinen eigenen Leib gehaßt, sondern er nährt und pflegt ihn, wie auch Christus die Kirche. Denn wir sind Glieder seines Leibes« (Eph 5,28–30). Und er ermahnt die Eheleute mit den Worten: »Einer ordne sich dem andern unter in der gemeinsamen Ehrfurcht vor Christus« (Eph 5,21).
Das ist gewiss eine neue Darstellung der ewigen Wahrheit über die Ehe und die Familie im Lichte des Neuen Bundes. Christus hat sie geoffenbart im Evangelium, mit seiner Anwesenheit in Kana in Galiläa, mit dem Opfer am Kreuz und den Sakramenten seiner Kirche. Die Eheleute finden somit in Christus den Bezugspunkt ihrer ehelichen Liebe. Wenn der hl. Paulus von Christus als dem Bräutigam der Kirche spricht, nimmt er in analoger Weise auf die eheliche Liebe Bezug; er bezieht sich auf das Buch Genesis: »Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und die zwei werden ein Fleisch« (Gen 2,24). Das ist das »tiefe Geheimnis« der ewigen Liebe, die bereits vor der Schöpfung gegenwärtig war, in Christus geoffenbart und der Kirche anvertraut wurde. »Dies ist ein tiefes Geheimnis – sagt der Apostel –; ich beziehe es auf Christus und auf die Kirche« (Eph 5,32). Man kann daher die Kirche nicht als mystischen Leib Christi, als Zeichen des Bundes des Menschen mit Gott in Christus, als universales Sakrament des Heiles verstehen, ohne sich auf das »tiefe Geheimnis« zu beziehen, das mit der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau und mit der Berufung der beiden zur ehelichen Liebe, zur Elternschaft verbunden ist. Das »tiefe Geheimnis«, das die Kirche und das Menschsein in Christus ist, existiert nicht ohne das »tiefe Geheimnis«, das in dem »ein Fleisch sein« (vgl. Gen 2,24; Eph 5,31–32), das heißt in der Wirklichkeit der Ehe und Familie, zum Ausdruck kommt.
Die Familie selbst ist das tiefe Geheimnis Gottes. Als »Hauskirche« ist sie die Braut Christi. Die Universalkirche und in ihr jede Teilkirche enthüllt sich ganz unmittelbar als Braut Christi in der »Hauskirche« und in der in ihr gelebten Liebe: eheliche Liebe, elterliche Liebe, geschwisterliche Liebe, Liebe einer Gemeinschaft von Personen und Generationen. Ist etwa die menschliche Liebe ohne den Bräutigam und ohne die Liebe denkbar, mit der Er zuerst geliebt hat bis zur Vollendung? Nur wenn sie an dieser Liebe und an diesem »tiefen Geheimnis« teilnehmen, können die Eheleute lieben »bis zur Vollendung«: Entweder werden sie zu Teilhabern an dieser Liebe, oder sie lernen nicht bis ins Innerste kennen, was die Liebe ist und wie radikal ihre Anforderungen sind. Das stellt zweifellos eine große Gefahr für sie dar.
Die Lehre des Epheserbriefes versetzt uns wegen ihrer Tiefgründigkeit und wegen ihrer ethischen Kraft in Erstaunen. Indem er die Ehe und indirekt die Familie als das »tiefe Geheimnis« in Bezug auf Christus und auf die Kirche bezeichnet, kann der Apostel Paulus noch einmal bekräftigen, was er vorher zu den Ehemännern gesagt hatte: »Jeder von euch liebe seine Frau wie sich selbst!« Dann fügt er hinzu: »Die Frau aber ehre den Mann!« (Eph 5,33). Sie ehrt ihn, weil sie ihn liebt und sich wiedergeliebt weiß. Kraft solcher Liebe werden sich die Eheleute gegenseitig zum Geschenk. In der Liebe ist die Anerkennung der persönlichen Würde des anderen und seiner unwiederholbaren Einzigartigkeit enthalten: Tatsächlich wurde jeder von ihnen als menschliches Wesen unter allen Kreaturen auf Erden von Gott um seiner selbst willen gewollt (Gaudium et spes, 24); jeder macht sich jedoch mit dem bewussten und verantwortlichen Akt selbst und aus freien Stücken zum Geschenk an den anderen und an die vom Herrn empfangenen Kinder. Bezeichnenderweise fährt der hl. Paulus in seiner Ermahnung fort, indem er einen Zusammenhang zum vierten Gebot herstellt: »Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern, wie es vor dem Herrn recht ist. Ehre deinen Vater und deine Mutter: Das ist ein Hauptgebot, und ihm folgt die Verheißung: damit es dir gut geht und du lange lebst auf der Erde. Ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn, sondern erzieht sie in der Zucht und Weisung des Herrn!« (Eph 6,1–4). Der Apostel sieht also im vierten Gebot folgerichtig den Auftrag zu gegenseitiger Achtung zwischen Ehemann und Ehefrau, zwischen Eltern und Kindern und erkennt so in ihm das Prinzip der gefestigten Geschlossenheit der Familie.
Die wunderbare paulinische Synthese über das »tiefe Geheimnis« stellt sich gewissermaßen als Zusammenfassung, als Summe der Lehre über Gott und den Menschen dar, die Christus zu Ende geführt hat. Leider hat sich das abendländische Denken mit der Entwicklung des modernen Rationalismus nach und nach von dieser Lehre entfernt. Der Philosoph, der das Prinzip Cogito, ergo sum (»Ich denke, also bin ich«), formuliert hat, hat auch der modernen Auffassung vom Menschen den dualistischen Charakter aufgeprägt, der sie kennzeichnet. Zum Rationalismus gehört die radikale Gegeneinanderstellung von Geist und Körper und Körper und Geist im Menschen. Der Mensch ist hingegen Person in der Einheit von Körper und Geist (vgl. Gaudium et spes, 14). Der Körper darf niemals auf reine Materie verkürzt werden: Er ist ein „von Geist erfüllter“ Körper, so wie der Geist so tief mit dem Körper verbunden ist, dass er ein „leibhaftiger“ Geist genannt werden kann. Die reichste Quelle für die Kenntnis des Körpers ist das fleischgewordene Wort. Christus offenbart den Menschen dem Menschen (vgl. ebd., 22). Diese Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils ist in gewissem Sinne die lange erwartete Antwort der Kirche an den modernen Rationalismus.
Diese Antwort gewinnt eine grundlegende Bedeutung für das Verständnis der Familie, besonders vor dem Hintergrund der heutigen Zivilisation, die, wie schon gesagt wurde, in so vielen Fällen anscheinend darauf verzichtet hat, eine »Zivilisation der Liebe« zu sein. Groß ist im modernen Zeitalter der Fortschritt in der Kenntnis der materiellen Welt und auch der menschlichen Psychologie gewesen; was aber seine innerste Dimension, die metaphysische Dimension, betrifft, so bleibt der heutige Mensch für sich selbst großenteils ein unbekanntes Wesen; folglich bleibt auch die Familie eine unbekannte Wirklichkeit. Dazu kommt es wegen der Entfernung von jenem »tiefen Geheimnis«, von dem der Apostel spricht.
Die Trennung im Menschen zwischen Geist und Körper hatte zur Folge, dass sich die Tendenz verstärkte, den menschlichen Leib nicht nach den Kategorien seiner spezifischen Ähnlichkeit mit Gott zu behandeln, sondern nach den Kategorien seiner Ähnlichkeit mit allen anderen in der Natur vorhandenen Körpern, Körpern, die der Mensch als Material für seine auf die Herstellung von Konsumgütern ausgerichtete Tätigkeit verwendet. Doch wird jeder unmittelbar einsehen, dass die Anwendung solcher Kriterien auf den Menschen in Wirklichkeit enorme Gefahren in sich birgt. Wenn der unabhängig von Geist und Denken betrachtete menschliche Körper als Material wie der Körper von Tieren verwendet wird – und das geschieht zum Beispiel bei den Manipulationen an Embryonen und Föten –, gehen wir unausweichlich einer schrecklichen ethischen Niederlage entgegen.
In einer solchen anthropologischen Perspektive erlebt die Menschheitsfamilie soeben die Erfahrung eines neuen Manichäismus, in dem der Körper und der Geist radikal einander entgegengesetzt werden. Weder lebt der Körper vom Geist, noch belebt der Geist den Körper. Der Mensch hört so auf, als Person und Subjekt zu leben. Trotz der Absichten und gegenteiligen Erklärungen wird er ausschließlich zu einem Objekt. Auf diese Weise hat diese neomanichäische Zivilisation zum Beispiel dazu geführt, dass man in der menschlichen Sexualität mehr ein Terrain der Manipulation und der Ausbeutung sieht als die Wirklichkeit jenes anfänglichen Staunens, das Adam am Morgen der Schöpfung vor Eva sagen ließ: »Das ist Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Gebein« (vgl. Gen 2,23). Und das Staunen, das in den Worten des Hohenliedes anklingt: »Verzaubert hast du mich, meine Schwester Braut, ja verzaubert mit einem Blick deiner Augen« (Hld 4,9). Wie weit entfernt sind doch gewisse moderne Auffassungen von dem tiefen Verständnis der Männlichkeit und Weiblichkeit, das uns die christliche Offenbarung bietet! Sie lässt uns in der menschlichen Sexualität einen Reichtum der Person entdecken, die die wahre Erschließung ihres Wertes in der Familie findet und ihre tiefe Berufung auch in der Jungfräulichkeit und im Zölibat um des Himmelreiches willen zum Ausdruck bringt.
Der moderne Rationalismus duldet das Geheimnis nicht. Er akzeptiert das Geheimnis des Menschen, des Mannes und der Frau, nicht und will nicht anerkennen, dass die volle Wahrheit über den Menschen in Jesus Christus geoffenbart worden ist. Im Besonderen duldet er nicht das im Epheserbrief verkündete »tiefe Geheimnis« und bekämpft es auf radikale Weise. Selbst wenn er im Rahmen eines unklaren Deismus die Möglichkeit eines höheren oder göttlichen Wesens und sogar das Verlangen nach ihm anerkennt, weist er die Vorstellung von einem Gott, der Mensch geworden ist, um den Menschen zu erlösen, entschieden zurück. Für den Rationalismus ist es undenkbar, dass Gott der Erlöser ist, schon gar nicht, dass er »der Bräutigam« ist, die urgründliche und einzige Quelle der ehelichen Liebe des Menschen. Er interpretiert die Erschaffung und den Sinn der menschlichen Existenz radikal anders. Aber wenn dem Menschen der Ausblick auf einen Gott abhandenkommt, der ihn liebt und ihn durch Christus dazu beruft, in Ihm und mit Ihm zu leben, wenn der Familie nicht die Möglichkeit eröffnet wird, an dem »tiefen Geheimnis« teilzuhaben, was bleibt dann anderes als die reine irdische Dimension des Lebens? Es bleibt das irdische Leben als Gelände des Existenzkampfes, die anstrengende Suche nach Gewinn, vor allem nach ökonomischem Gewinn.
Das »tiefe Geheimnis«, das Sakrament der Liebe und des Lebens, das seinen Anfang in der Schöpfung und in der Erlösung hat und dessen Garant der Bräutigam Christus ist, hat in der modernen Denkweise seine tiefsten Wurzeln verloren. Es ist in uns und rings um uns bedroht. Möge das in der Kirche begangene Jahr der Familie für die Eheleute zu einer geeigneten Gelegenheit werden, es wiederzuentdecken und sich kraftvoll, mutig und mit Begeisterung wieder dazu zu bekennen.
Die Mutter der schönen Liebe
20. Ihren Anfang nimmt die Geschichte der »schönen Liebe« mit der Verkündigung, mit jenen wunderbaren Worten, die der Engel Maria überbracht hat, die dazu berufen wird, die Mutter des Gottessohnes zu werden. Mit dem „Ja“ Marias wird Der, der »Gott von Gott und Licht vom Licht« ist, zum Menschensohn; Maria ist seine Mutter, obwohl sie Jungfrau bleibt und »keinen Mann erkennt« (vgl. Lk 1,34). Als Jungfrau und Mutter wird Maria Mutter der schönen Liebe. Diese Wahrheit ist bereits in den Worten des Erzengels Gabriel geoffenbart, aber ihre volle Bedeutung wird nach und nach vertieft und bestätigt werden, wenn Maria ihrem Sohn auf dem Pilgerweg des Glaubens folgt (Lumen gentium, 56-59).
Die »Mutter der schönen Liebe« wurde von dem aufgenommen, der der Tradition Israels entsprechend bereits ihr irdischer Gemahl war, Josef aus dem Stamm Davids. Er hätte das Recht gehabt, sich Gedanken zu machen über das Eheversprechen sowie über seine Frau und die Mutter seiner Kinder. In diese bräutliche Verbindung greift jedoch Gott mit seiner Initiative ein: »Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist« (Mt 1,20). Josef weiß, ja er sieht mit eigenen Augen, dass in Maria ein neues Leben heranwächst, das nicht von ihm stammt, und als gerechter Mann, der sich an das alte Gesetz hält, das in diesem Fall ihm die Pflicht der Scheidung auferlegte, will er in liebevoller Weise die Ehe auflösen (vgl. Mt 1,19). Der Engel des Herrn lässt ihn wissen, dass das nicht seiner Berufung entspräche, ja gegen die eheliche Liebe wäre, die ihn mit Maria verbindet. Diese gegenseitige eheliche Liebe verlangt, um voll und ganz die »schöne Liebe« zu sein, dass er Maria und ihren Sohn in sein Haus in Nazaret aufnimmt. Josef gehorcht der göttlichen Botschaft und handelt so, wie ihm befohlen worden ist (vgl. Mt 1,24). Auch dank Josefs wird das Geheimnis der Fleischwerdung und zusammen mit ihm das Geheimnis der Heiligen Familie tief in die eheliche Liebe des Mannes und der Frau und indirekt in die Genealogie jeder menschlichen Familie eingeschrieben. Was Paulus das »tiefe Geheimnis« nennen wird, findet in der Heiligen Familie seinen höchsten Ausdruck. Auf diese Weise steht die Familie wahrhaftig im Zentrum des Neuen Bundes.
Man kann auch sagen, dass die Geschichte der »schönen Liebe« in gewissem Sinne mit dem ersten Menschenpaar, mit Adam und Eva, begonnen hat. Die Versuchung, der sie nachgaben, und die daraus folgende Ursünde, beraubt sie nicht vollständig der Fähigkeit zur »schönen Liebe«. Das ahnt man, wenn man zum Beispiel im Buch Tobit liest, dass die Neuvermählten Tobias und Sara, als sie über den Sinn ihrer Vereinigung nachdachten, sich auf die Voreltern Adam und Eva beriefen (vgl. Tob 8,6). Im Neuen Bund bezeugt das auch der hl. Paulus, wenn er von Christus als neuem Adam spricht (vgl. 1 Kor 15,45): Christus kommt nicht, um den ersten Adam und die erste Eva zu verdammen, sondern um sie zu erlösen; er kommt, um das zu erneuern, was im Menschen Geschenk Gottes ist, was in ihm ewig, gut und schön ist und die Grundlage der schönen Liebe bildet. Die Geschichte der »schönen Liebe« ist in gewissem Sinne die Geschichte der Heilsrettung des Menschen.
Die »schöne Liebe« nimmt immer mit der Selbstoffenbarung der Person ihren Anfang. In der Schöpfung offenbart sich Eva dem Adam, wie Adam sich Eva offenbart. Im Laufe der Geschichte offenbaren sich die neuen Bräute ihren Gatten, die neuen Menschenpaare sagen sich gegenseitig: »Wir wollen miteinander durch's Leben gehen.« So beginnt die Familie als Bund der beiden und kraft des Sakramentes als neue Gemeinschaft in Christus. Damit sie wirklich schön ist, muss die Liebe Hingabe Gottes sein, ausgegossen vom Heiligen Geist in die menschlichen Herzen und in ihnen ständig genährt (vgl. Röm 5,5). Die Kirche, die darum weiß, bittet im Ehesakrament den Heiligen Geist, die menschlichen Herzen heimzusuchen. Damit es wirklich »schöne Liebe«, das heißt Hingabe der Person an die Person, ist, muss sie von dem kommen, der selbst Hingabe und Quelle aller Hingabe ist.
So geschieht es im Evangelium, was Maria und Josef betrifft, die an der Schwelle des Neuen Bundes die Erfahrung der im Hohenlied beschriebenen »schönen Liebe« wieder erleben. Josef denkt und sagt von Maria: »Meine Schwester Braut« (vgl. Hld 4,9). Maria, Gottesmutter, empfängt durch den Heiligen Geist, und von ihm kommt die »schöne Liebe«, die das Evangelium feinsinnigerweise in den Zusammenhang des »tiefen Geheimnisses« stellt.
Wenn wir von der »schönen Liebe« reden, reden wir damit von der Schönheit: Schönheit der Liebe und Schönheit des Menschenwesens, das kraft des Heiligen Geistes zu solcher Liebe fähig ist. Wir reden von der Schönheit des Mannes und der Frau: von ihrer Schönheit als Bruder oder Schwester, als Brautleute, als Ehegatten. Das Evangelium klärt nicht nur über das Geheimnis der »schönen Liebe« auf, sondern auch über das nicht weniger tiefe Geheimnis der Schönheit, die wie die Liebe von Gott kommt. Von Gott sind der Mann und die Frau, Personen, dazu berufen, sich gegenseitig zum Geschenk zu werden. Aus dem Urgeschenk des Geistes, »der das Leben gibt«, entspringt das gegenseitige Geschenk, Ehemann oder Ehefrau zu sein, nicht weniger als das Geschenk, Bruder oder Schwester zu sein.
Das alles findet seine Bestätigung im Geheimnis der Fleischwerdung, das in der Geschichte der Menschen zur Quelle einer neuen Schönheit geworden ist, die unzählige künstlerische Meisterwerke inspiriert hat. Nach dem strengen Verbot, den unsichtbaren Gott in Bildern darzustellen (vgl. Dtn 4,15–20), hat das christliche Zeitalter dagegen für die künstlerische Darstellung des menschgewordenen Gottes, seiner Mutter Maria und Josefs, der Heiligen des Alten wie des Neuen Bundes und überhaupt der gesamten von Christus erlösten Schöpfung gesorgt und auf diese Weise einen neuen Bezug zur Welt der Kultur und der Kunst hergestellt. Man kann sagen, der neue Kunstkanon, in seiner Achtsamkeit für die Tiefendimensionen des Menschen und für seine Zukunft beginnt mit dem Geheimnis der Inkarnation Christi und lässt sich von den Geheimnissen seines Lebens inspirieren: die Geburt von Betlehem, die Verborgenheit in Nazaret, das öffentliche Wirken, Golgota, die Auferstehung und seine endgültige Rückkehr in Herrlichkeit. Die Kirche weiß, dass ihre Präsenz in der modernen Welt und im Besonderen, dass ihr Beitrag und die Unterstützung bei der Bewertung der Würde der Ehe und Familie eng mit der Kulturentwicklung zusammenhängt; mit Recht macht sie sich darum Sorge. Eben deshalb verfolgt die Kirche aufmerksam die Orientierungen der sozialen Kommunikationsmittel, deren Aufgabe es ist, das große Publikum nicht nur zu informieren, sondern zu formen (Päpstlicher Rat für die sozialen Kommunikationsmittel, Pastoralinstruktion Aetatis novae, 7). In Kenntnis der umfassenden und tiefgreifenden Auswirkung dieser Medien wird sie nicht müde, jene, die im Kommunikationsbereich tätig sind, vor den Gefahren der Manipulation der Wahrheit zu warnen. Was für eine Wahrheit kann es in der Tat in Filmen, Schauspielen, Rundfunk- und Fernsehprogrammen geben, in denen die Pornographie und die Gewalt vorherrschen? Ist das ein guter Dienst an der Wahrheit über den Menschen? Das sind einige Fragen, denen sich die Manager dieser Instrumente und die verschiedenen Verantwortlichen für die Bearbeitung und Vermarktung ihrer Produkte nicht entziehen können.
Durch eine solche kritische Reflexion müsste sich unsere Zivilisation, obschon so viele positive Aspekte auf materieller wie auf kultureller Ebene zu verzeichnen sind, bewusstwerden, dass sie unter verschiedenen Gesichtspunkten eine kranke Zivilisation ist, die tiefgreifende Entstellungen im Menschen erzeugt. Warum kommt es dazu? Der Grund liegt darin, dass unsere Gesellschaft sich von der vollen Wahrheit über den Menschen losgelöst hat, von der Wahrheit über das, was der Mann und die Frau als Personen sind. Infolgedessen vermag sie nicht angemessen zu begreifen, was die Hingabe der Personen in der Ehe, eine dem Dienst der Elternschaft verantwortliche Liebe, die authentische Größe der Elternschaft und der Erziehung wirklich sind. Ist es also übertrieben zu behaupten, dass die Massenmedien, wenn sie sich nicht nach den gesunden ethischen Prinzipien ausrichten, nicht der Wahrheit in ihrer wesentlichen Dimension dienen? Das ist also das Drama: Die modernen Mittel der sozialen Kommunikation sind der Versuchung ausgesetzt, durch Verfälschung der Wahrheit über den Menschen die Botschaft zu manipulieren. Der Mensch ist nicht derjenige, für den von der Werbung Reklame gemacht und der in den modernen Massenmedien dargestellt wird. Er ist weit mehr als psychophysische Einheit, als ein Wesen aus Seele und Leib, als Person. Er ist weit mehr durch seine Berufung zur Liebe, die ihn als Mann und Frau in die Dimension des »tiefen Geheimnisses« einführt.
Maria ist als erste in diese Dimension eingetreten und hat auch ihren Gemahl Josef darin eingeführt. So sind sie zu den ersten Vorbildern jener schönen Liebe geworden, die die Kirche für die Jugend, für die Eheleute und für die Familien unaufhörlich anruft. Und auch die Jugend, die Eheleute, die Familie mögen nicht müde werden, gleichfalls dafür zu beten. Wie sollte man nicht an die Scharen alter und junger Pilger denken, die in den Marienheiligtümern zusammenströmen und den Blick auf das Antlitz der Muttergottes richten, auf das Antlitz der Mitglieder der Heiligen Familie, auf denen sich die ganze Schönheit der Liebe widerspiegelt, die dem Menschen von Gott geschenkt wird?
In der Bergpredigt erklärt Christus im Zusammenhang mit dem sechsten Gebot: »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen« (Mt 5,27–28). In Bezug auf die Zehn Gebote, die es auf die Verteidigung der traditionellen Geschlossenheit von Ehe und Familie abgesehen haben, bezeichnen diese Worte einen großen Sprung nach vorn. Jesus geht an die Quelle der Sünde des Ehebruchs: Sie liegt im Innern des Menschen und wird an einer Weise des Schauens und Denkens offenkundig, die von der Begierde beherrscht wird. Durch die Begierde neigt der Mensch dazu, sich ein anderes Menschenwesen anzueignen, das nicht ihm, sondern Gott gehört. Während sich Christus an seine Zeitgenossen wendet, spricht er zu den Menschen aller Zeiten und aller Generationen; er spricht im Besonderen zu unserer Generation, die im Zeichen einer konsumistischen und hedonistischen Zivilisation lebt.
Warum äußert sich Christus in der Bergpredigt in derart kraftvoller und anspruchsvoller Weise? Die Antwort ist vollkommen klar: Christus will die Heiligkeit der Ehe und der Familie gewährleisten, Er will die volle Wahrheit über die menschliche Person und über ihre Würde verteidigen.
Nur im Lichte dieser Wahrheit kann die Familie bis ins letzte die große „Offenbarung“ sein, die erste Entdeckung des andern: die gegenseitige Entdeckung der Ehegatten und dann jedes Sohnes bzw. jeder Tochter, die von ihnen zur Welt gebracht werden. Was die Eheleute einander schwören, nämlich »die Treue in guten und in bösen Tagen und sich zu lieben, zu achten und zu ehren, solange sie leben«, ist nur in der Dimension der »schönen Liebe« möglich. Sie kann der heutige Mensch nicht aus den Inhalten der modernen Massenkultur lernen. Die »schöne Liebe« lernt man vor allem durch Beten. Denn das Gebet ist, um eine Formulierung des hl. Paulus zu verwenden, immer mit einer Art innerer Verborgenheit mit Christus in Gott verbunden: »Euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott« (Kol 3,3). Nur in einer solchen Verborgenheit wirkt der Heilige Geist, Quelle der schönen Liebe. Nicht nur in das Herz Marias und Josefs, er gießt diese Liebe auch in die Herzen der Brautleute aus, die imstande sind, das Wort Gottes zu hören und es zu bewahren (vgl. Lk 8,15). Die Zukunft jeder Kernfamilie hängt von dieser »schönen Liebe« ab: gegenseitige Liebe der Ehegatten, der Eltern und der Kinder, Liebe aller Generationen. Die Liebe ist die wahre Quelle der Einheit und der Stärke der Familie.
Die Geburt und die Gefahr
21. Die kurze Erzählung über die Kindheit Jesu berichtet auf sehr bedeutsame Weise fast gleichzeitig von seiner Geburt und von der Gefahr, der er gleich entgegentreten muss. Lukas gibt die prophetischen Worte wieder, die der greise Simeon anlässlich der Darstellung des Kindes im Tempel, vierzig Tage nach der Geburt, gesprochen hat. Er sprach von »Licht« und von einem »Zeichen, dem widersprochen wird«; dann prophezeite er Maria: »Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen« (vgl. Lk 2,32–35). Matthäus hingegen hält bei dem hinterhältigen Vorgehen ein, das vonseiten des Herodes gegen Jesus angezettelt wurde: Als er von den Magiern, die aus dem Osten gekommen waren, um den neuen König zu sehen, der geboren werden sollte, informiert wurde (vgl. Mt 2,2), fühlte er sich in seiner Macht bedroht und befahl nach der Abreise der Magier, alle Kinder unter zwei Jahren in Betlehem und Umgebung zu töten. Jesus entging den Fängen des Herodes dank eines besonderen göttlichen Eingreifens und dank der väterlichen Sorge Josefs, der ihn zusammen mit seiner Mutter nach Ägypten brachte, wo sie bis zum Tod des Herodes blieben. Dann kehrten sie in ihre Geburtsstadt Nazaret zurück, wo für die Heilige Familie ein langer, von getreuer und großherziger Erfüllung der Alltagspflichten gekennzeichneter verborgener Lebensabschnitt begann (vgl. Mt 2,1–23; Lk 2,39–52).
Von prophetischer Aussagekraft erscheint die Tatsache, dass Jesus von Geburt an Drohungen und Gefahren ausgesetzt war. Er ist bereits als Kind ein »Zeichen, dem widersprochen wird«. Prophetische Aussagekraft gewinnt außerdem das Drama der auf Befehl des Herodes ermordeten unschuldigen Kinder von Betlehem, die, nach der alten Liturgie der Kirche, zu Teilhabern an der Geburt und dem erlösenden Leiden und Sterben Christi geworden sind. Durch ihre »Passion« ergänzen sie, »für den Leib Christi, die Kirche, was an den Leiden Christi noch fehlt« (Kol 1,24).
Im Evangelium von der Kindheit wird also die Ankündigung des Lebens, die sich auf wunderbare Weise im Ereignis der Geburt des Erlösers erfüllt, in aller Deutlichkeit der Bedrohung des Lebens gegenübergestellt, eines Lebens, das in seiner Vollständigkeit das Geheimnis der Fleischwerdung und der gottmenschlichen Wirklichkeit Christi einschließt. Das Wort ist Fleisch geworden (vgl. Joh 1,14), Gott ist Mensch geworden. Auf dieses erhabene Geheimnis beriefen sich die Kirchenväter oft: »Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch in ihm und durch ihn Gott werde« (Athanasius, De Incarnatione Verbi, 54: PG 25, 191-192). Diese Glaubenswahrheit ist gleichzeitig die Wahrheit über den Menschen. Sie legt die Schwere jedes Anschlags auf das Leben des Kindes im Mutterschoß an den Tag. Hier, genau hier haben wir es mit dem Gegensatz zur »schönen Liebe« zu tun. Wer es ausschließlich auf den Genuss abgesehen hat, kann soweit gehen, die Liebe dadurch zu töten, dass er ihre Frucht tötet. Für die Kultur des Genusses wird die »Frucht deines Leibes, die gesegnet ist« (Lk 1,42), in gewissem Sinne zu einer »Frucht, die verflucht ist«.
In diesem Zusammenhang sind auch die Verzerrungen in Erinnerung zu bringen, die der sogenannte Rechtsstaat in zahlreichen Ländern erfahren hat. Das Gesetz Gottes gegenüber dem menschlichen Leben ist eindeutig und entschieden. Gott gebietet: »Du sollst nicht töten« (Ex 20,13). Kein menschlicher Gesetzgeber kann daher behaupten: Du darfst töten, du hast das Recht zu töten, oder, du solltest töten. Leider hat sich dies in der Geschichte unseres Jahrhunderts bewahrheitet, als auch auf demokratische Weise an die Macht gekommene politische Kräfte gegen das Recht eines jeden Menschen auf Leben gerichtete Gesetze erlassen haben, und dies unter Berufung auf so anmaßende wie abwegige eugenische, ethnische oder ähnliche Gründe. Ein auch wegen seiner weithin von Gleichgültigkeit oder Zustimmung seitens der öffentlichen Meinung begleitetes nicht minder schwerwiegendes Phänomen ist das der Gesetzgebung, die das Recht auf Leben von der Zeugung an nicht achtet. Wie könnte man Gesetze moralisch akzeptieren, die es gestatten, das noch nicht geborene menschliche Wesen, das aber bereits im mütterlichen Schoß lebt, zu töten? Das Recht auf Leben wird zum ausschließlichen Vorrecht der Erwachsenen, die sich eben genau der Parlamente bedienen, um ihre Vorhaben in die Tat umzusetzen und die eigenen Interessen zu verfolgen. Das Recht auf Leben wird dem, der noch nicht geboren ist, verweigert, und so sterben auf Grund dieser gesetzgeberischen Dispositionen Millionen Menschenwesen auf der ganzen Welt.
Wir stehen vor einer enormen Bedrohung des Lebens: nicht nur einzelner Individuen, sondern auch der ganzen Zivilisation. Die Behauptung, diese Zivilisation sei unter gewissen Gesichtspunkten zu einer »Zivilisation des Todes« geworden, erhält eine besorgniserregende Bestätigung. Ist es etwa kein prophetisches Ereignis, das die Geburt Christi von der Gefahr für seine Existenz begleitet gewesen ist? Ja, auch das Leben dessen, der gleichzeitig »Menschensohn« und »Sohn Gottes« ist, war bedroht, war von Anfang an in Gefahr und ist nur durch ein Wunder dem Tod entronnen.
In den letzten Jahrzehnten sind jedoch einige tröstliche Anzeichen für ein Wiedererwachen der Gewissen festzustellen: Das betrifft sowohl die Welt des Denkens wie selbst die öffentliche Meinung. Besonders unter den Jugendlichen wächst ein neues Bewusstsein der Ehrfurcht vor dem Leben von der Empfängnis an; die Bewegungen für das Leben (pro life) breiten sich aus. Das ist eine Triebkraft der Hoffnung für die Zukunft der Familie und der ganzen Menschheit.
» ... ihr habt mich aufgenommen«
22. Eheleute und Familien in aller Welt: Der Bräutigam ist bei euch! Das vor allem will euch der Papst in dem Jahr sagen, das die Vereinten Nationen und die Kirche der Familie widmen. »Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird« (Joh 3,16–17); »Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist ... Ihr müsst von neuem geboren werden« (Joh 3,6–7). Ihr müsst »aus Wasser und Geist geboren werden« (Joh 3,5). Gerade ihr, liebe Väter und Mütter, seid die ersten Zeugen und Diener dieser neuen Geburt aus dem Heiligen Geist. Ihr, die ihr eure Kinder für die irdische Heimat zeugt, vergesst nicht, dass ihr sie gleichzeitig für Gott zeugt. Gott wünscht ihre Geburt aus dem Heiligen Geist; Er will sie als Adoptivkinder in dem eingeborenen Sohn, der uns »Macht gibt, Kinder Gottes zu werden« (Joh 1,12). Das Werk der Errettung dauert in der Welt an und wird durch die Kirche verwirklicht. Das alles ist das Werk des Sohnes Gottes, des göttlichen Bräutigams, der das Reich des Vaters an uns weitergegeben hat und uns, seine Jünger, daran erinnert: »Das Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch!« (Lk 17,21).
Unser Glaube sagt uns, dass Jesus Christus, der »zur Rechten des Vaters sitzt«, kommen wird, um die Lebenden und die Toten zu richten. Auf der anderen Seite versichert uns der Evangelist Johannes, dass er nicht in die Welt gesandt ist, »damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird« (Joh 3,17). Worin besteht also das Gericht? Christus selbst bietet die Antwort: »Mit dem Gericht verhält es sich so: Das Licht kam in die Welt ( . . . ). Wer die Wahrheit liebt, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind« (Joh 3,19.21). Das alles hat kürzlich die Enzyklika Veritatis splendor in Erinnerung gebracht (Nr. 84). Ist Christus also Richter? Deine eigenen Taten werden dich im Licht der Wahrheit richten, die du kennst. Die Väter und Mütter, die Söhne und Töchter werden nach ihren Taten gerichtet werden. Jeder von uns wird nach den Geboten gerichtet werden; auch nach jenen Geboten, die wir in diesem Schreiben erwähnt haben: dem vierten, fünften, sechsten und neunten. Ein jeder von uns wird jedoch vor allem nach der Liebe gerichtet werden, die den Sinn und die Zusammenfassung der Gebote darstellt. »Am Abend unseres Lebens werden wir nach der Liebe gerichtet werden« – schrieb der hl. Johannes vom Kreuz (Verba lucis et amoris, 59). Christus, Erlöser und Bräutigam der Menschheit, »ist dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, daß er für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf seine Stimme« (vgl. Joh 18,37). Er wird der Richter sein, aber so, wie er selbst es angezeigt hat, als er vom Weltgericht sprach (vgl. Mt 25,31–46). Sein Gericht wird ein Gericht über die Liebe sein, ein Gericht, das die Wahrheit endgültig bestätigen wird, dass der Bräutigam bei uns war und wir es vielleicht nicht gewusst haben.
Der Richter ist der Bräutigam der Kirche und der Menschheit. Darum richtet er, indem er spricht: »Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid [...] Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben« (Mt 25,34–36). Diese Aufzählung ließe sich natürlich verlängern, und in ihr könnte eine Unmenge von Problemen auftauchen, die das Ehe- und Familienleben betreffen. Da würde man auch Äußerungen wie diese antreffen können: »Ich war ein noch ungeborenes Kind, und ihr habt mich aufgenommen und mich zur Welt kommen lassen; ich war ein verlassenes Kind, und ihr seid mir eine Familie gewesen; ich war ein Waise, und ihr habt mich angenommen und erzogen wie euer Kind.« Und weiter: »Ihr habt den zweifelnden oder unter äußerem Druck stehenden Müttern geholfen, ihr ungeborenes Kind anzunehmen und es zur Welt kommen zu lassen; ihr habt unzähligen Familien geholfen, Familien, die Schwierigkeiten damit hatten, die Kinder, die Gott ihnen geschenkt hatte, zu erhalten und zu erziehen.« Und wir könnten fortfahren in einer langen und bunten Liste, die jede Art von wahrem moralischem und menschlichem Guten enthält, in dem die Liebe zum Ausdruck kommt. Das ist die große Ernte, die der Erlöser der Welt, dem der Vater das Gericht anvertraut hat, einzuholen kommen wird: Es ist die reiche Ernte an Gnaden und guten Werken, die im Lebenshauch des Bräutigams im Heiligen Geist gereift ist, der in der Welt und in der Kirche nicht zu wirken aufhört. Dafür danken wir dem Spender alles Guten.
Wir wissen jedoch, dass es bei dem von dem Evangelisten Matthäus geschilderten Endgericht noch eine andere Aufzählung gab, schwerwiegend und erschreckend: »Weg von mir, ihr Verfluchten [...]. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir keine Kleidung gegeben« (Mt 25,41–43). Und auch in dieser Liste werden sich noch andere Haltungen finden lassen, in denen Jesus einfach nur als der abgewiesene Mensch erscheint. Auf diese Weise identifiziert Er sich mit den verlassenen Ehepartnern, mit dem empfangenen und abgelehnten Kind: »Ihr habt mich nicht aufgenommen!« Auch dieser Richterspruch geht mitten durch die Geschichte unserer Familien, er geht mitten durch die Geschichte der Nationen und der Menschheit. Das Wort Christi: »Ihr habt mich nicht aufgenommen«, trifft auch gesellschaftliche Institutionen, Regierungen und internationale Organisationen.
Pascal hat geschrieben: »Jesus wird im Todeskampf stehen bis zum Ende der Welt« (Blaise Pascal, Pensées, «Le mysteère de Jésus», 553). Der Todeskampf von Getsemane und der Todeskampf von Golgota sind der Höhepunkt der Offenbarung der Liebe. Im einen wie im anderen offenbart sich der Bräutigam, der bei uns ist, der stets von neuem liebt, der »liebt bis zur Vollendung« (vgl. Joh 13,1). Die Liebe, die in ihm ist und die von ihm über die Grenzen der persönlichen oder der Familiengeschichte hinausgeht, überschreitet die Grenzen der Geschichte der Menschheit.
Während ich, liebe Brüder und Schwestern, am Ende dieser Überlegungen an all das denke, was im Jahr der Familie von verschiedenen Stellen aus öffentlich verkündet werden wird, möchte ich mit euch das Bekenntnis des Petrus an Christus wiederholen: Allein »du hast Worte des ewigen Lebens« (Joh 6,68). Gemeinsam sagen wir: Deine Worte, Herr, werden nicht vergehen! (vgl. Mk 13,31). Was kann euch der Papst am Ende dieser langen Betrachtung über das Jahr der Familie wünschen? Ich wünsche euch, dass ihr alle euch wiederfindet in diesen Worten, die »Geist und Leben« sind (Joh 6,63).
»Im Inneren an Kraft und Stärke zugenommen«
23. Ich beuge meine Knie vor dem Vater, nach dessen Namen jedes Geschlecht benannt wird, »und bitte, er möge euch ... schenken, dass ihr in eurem Innern durch seinen Geist an Kraft und Stärke zunehmt« (Eph 3,16). Ich möchte gern auf diese Worte des Apostels zurückkommen, auf die ich im ersten Teil dieses Schreibens Bezug genommen habe. Sie sind in gewissem Sinne Schlüsselwörter. Die Familie, die Elternschaft halten miteinander Schritt. Zugleich ist die Familie die erste menschliche Umgebung, wo der »innere Mensch« Gestalt annimmt, von dem der Apostel spricht. Die Festigung seiner Kraft ist Geschenk des Vaters und des Sohnes im Heiligen Geist.
Das Jahr der Familie stellt uns in der Kirche vor eine enorme Aufgabe, zwar nicht verschieden von jener, welche die Familie Jahr für Jahr und Tag für Tag betrifft, die aber im Rahmen dieses Jahres besondere Bedeutung und Wichtigkeit annimmt. Wir haben das Jahr der Familie in Nazaret begonnen, am Fest der Heiligen Familie; wir wollen während dieses Jahres zu jenem Gnadenort pilgern, der in der Geschichte der Menschheit zum Heiligtum der Heiligen Familie geworden ist. Wir wollen diese Pilgerfahrt machen und dabei das Wissen um das Erbgut an Wahrheit über die Familie wiedergewinnen, die seit Anbeginn einen Schatz der Kirche darstellt. Es ist der Schatz, der sich aus der reichen Tradition des Alten Bundes anhäuft, im Neuen Bund vervollständigt und seinen vollen und sinnbildlichen Ausdruck im Geheimnis der Heiligen Familie findet, in welcher der göttliche Bräutigam die Erlösung aller Familien vollbringt. Von dort aus verkündet Jesus das »Evangelium der Familie«. Aus diesem Wahrheitsschatz schöpfen alle Generationen der Jünger Christi, angefangen von den Aposteln, von deren Lehre wir in diesem Schreiben reichlich Gebrauch gemacht haben.
In unserer Zeit wird dieser Schatz in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils gründlich erforscht (Gaudium et spes, 47-52); interessante Analysen findet man auch in den zahlreichen Ansprachen entwickelt, die Pius XII. dem Thema der Eheleute widmete (besondere Aufmerksamkeit verdient Pius XII, Ansprache an die Mitglieder des Kongresses der italienischen katholischen Union der Hebammen, 29. Oktober 1951), in der Enzyklika Humanae vitae Pauls VI., in den Beiträgen zu der Bischofssynode, die der Familie gewidmet war (1980), und in dem nachsynodalen Apostolischen Schreiben Familiaris consortio. Auf diese Aussagen des Lehramtes habe ich bereits Bezug genommen. Wenn ich jetzt darauf zurückkomme, dann deshalb, um zu unterstreichen, wie umfassend und reichhaltig der Schatz der christlichen Wahrheit über die Familie ist. Die schriftlichen Zeugnisse allein genügen freilich nicht. Viel wichtiger sind die lebendigen Zeugnisse. Paul VI. hat beobachtet, dass »der heutige Mensch lieber auf Zeugen hört als auf Lehrmeister, oder, wenn er auf die Lehrmeister hört, dann, weil sie Zeugen sind« (Ansprache an die Mitglieder des Laienrates, 2. Oktober 1974). Es sind vor allem die Zeugen, denen in der Kirche der Schatz der Familie anvertraut ist: jenen Vätern und Müttern, Söhnen und Töchtern, die durch die Familie den Weg ihrer menschlichen und christlichen Berufung, die Dimension des »inneren Menschen« (Eph 3,16), von dem der Apostel spricht, gefunden und somit die Heiligkeit erlangt haben. Die Heilige Familie ist der Anfang vieler anderer heiliger Familien. Das Konzil hat daran erinnert, dass die Heiligkeit die universale Berufung der Getauften ist (Lumen gentium, 40). In unserer Zeit wie in der Vergangenheit fehlt es nicht an Zeugen des »Evangeliums der Familie«, auch wenn sie unbekannt sind oder von der Kirche nicht heiliggesprochen worden sind. Das Jahr der Familie stellt die geeignete Gelegenheit dar, das Bewusstsein für deren Existenz und deren große Anzahl zu mehren.
Durch die Familie hindurch fließt die Geschichte des Menschen, die Geschichte der Errettung der Menschheit. Ich habe auf diesen Seiten zu zeigen versucht, dass sich die Familie im Zentrum des großen Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod, zwischen der Liebe und allem, was sich der Liebe widersetzt, befindet. Der Familie ist die Aufgabe anvertraut, vor allem für die Befreiung der Kräfte des Guten zu kämpfen, dessen Quelle sich in Christus, dem Erlöser des Menschen, befindet. Es gilt darauf hinzuwirken, dass diese Kräfte sich einem jeden Familienkern zuneigen werden, damit – wie anlässlich des Tausendjahrjubiläums der Christianisierung Polens gesagt wurde – die Familie »Festung Gottes« sei (Kard. Stefan Wyszyński, Rodzina Bogiem silna, Predigt in Jasna Góra, 26. August 1961) Das ist der Grund, warum sich dieses Schreiben von den apostolischen Ermahnungen inspirieren lassen wollte, die wir in den Schriften des Paulus (vgl. 1 Kor 7,1–40; Eph 5,21–6, 9; Kol 3,25) und in den Briefen des Petrus und des Johannes (vgl. 1 Petr 3,1–7; 1 Joh 2,12–17) finden. Wie ähnlich sind sich doch bei aller Verschiedenheit des geschichtlichen und kulturellen Rahmens die Situationen der Christen und der Familien von damals und von heute!
Ich habe daher eine Einladung: eine Einladung, die ich besonders an euch, liebe Ehemänner und Ehefrauen, Väter und Mütter, Söhne und Töchter, richte. Es ist eine Einladung an alle Teilkirchen, dass sie eins bleiben in der Lehre der apostolischen Wahrheit; an die Brüder im Bischofsamt, an die Priester, an die Ordensfamilien, an die geweihten Personen, an die Bewegungen und Laienvereinigungen; an die Brüder und Schwestern, mit denen uns der gemeinsame Glaube an Jesus Christus verbindet, auch wenn wir noch nicht die volle, vom Erlöser gewollte Gemeinschaft erleben (Lumen gentium, 15); an all jene, die den Glauben Abrahams teilen und wie wir zu der großen Gemeinschaft derer gehören, die an einen einzigen Gott glauben;61 an diejenigen, die Erben anderer geistlicher und religiöser Traditionen sind; an jeden Mann und jede Frau guten Willens.
Christus, der derselbe ist »gestern, heute und in Ewigkeit« (Hebr 13,8), sei bei uns, wenn wir die Knie beugen vor dem Vater, in dem jede Elternschaft und jede menschliche Familie ihren Ursprung hat (vgl. Eph 3,14–15), und mit denselben Worten des Gebetes zum Vater, das Er selbst uns gelehrt hat, gebe er noch einmal das Zeugnis der Liebe, mit der Er uns »geliebt hat bis zur Vollendung« (Joh 13,1)!
Ich spreche mit der Kraft seiner Wahrheit zum Menschen unserer Zeit, damit er begreift, welche großartigen Güter die Ehe, die Familie und das Leben sind; welche große Gefahr die Mißachtung dieser Wirklichkeiten und die geringe Rücksichtnahme auf die höchsten Werte darstellen, die die Familie und die Würde des Menschen begründen.
Möge der Herr Jesus uns mit der Macht und der Weisheit des Kreuzes dies erneut sagen, damit die Menschheit nicht der Versuchung des »Vaters der Lüge« (Joh 8,44) nachgibt, der sie ständig auf breite und geräumige, dem Anschein nach leicht begehbare angenehme Wege treibt, die aber in Wirklichkeit voller Hinterhälte und Gefahren sind. Möge es uns gegeben sein, stets dem zu folgen, der »der Weg, die Wahrheit und das Leben« ist (Joh 14,6).
Das, liebe Brüder und Schwestern, sei das Engagement der christlichen Familien und die missionarische Sorge der Kirche während dieses an einzigartigen göttlichen Gnaden reichen Jahres. Die Heilige Familie, Ikone und Vorbild jeder menschlichen Familie, helfe jedem, im Geist von Nazaret zu wandeln; sie helfe jeder Familie, ihre Sendung in Kirche und Gesellschaft durch das Hören des Gotteswortes, das Gebet und das brüderliche Leben miteinander zu vertiefen. Maria, Mutter der schönen Liebe, und Josef, Hüter des Erlösers, mögen uns alle unablässig mit ihrem Schutz begleiten.
Mit diesen Empfindungen segne ich jede Familie im Namen der Heiligsten Dreifaltigkeit, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Gegeben zu Rom, bei Sankt Peter, am 2. Februar, Fest der Darstellung des Herrn, im Jahr 1994, dem XVI. des Pontifikates.
JOHANNES PAUL II.
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