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BOTSCHAFT VON PAPST JOHANNES PAUL II. 
AN DEN REKTOR DER PÄPSTLICHEN LATERANUNIVERSITÄT, 
BISCHOF SALVATORE FISICHELLA, AUS ANLASS EINES INTERNATIONALEN JURISTISCHEN KOLLOQIUMS

 

An meinen verehrten Bruder
Mons. SALVATORE FISICHELLA
Rektor der Päpstlichen Lateranuniversität 

1. Mit Freude habe ich erfahren, daß das »Institutum Utriusque Iuris« der Päpstlichen Lateranuniversität ein Internationales Juristisches Kolloquium angeregt hat zur Vertiefung der inneren Beziehung zwischen den grundlegenden Inhalten des Rechts und dem Ideal der Gerechtigkeit, das der kanonischen Gesetzgebung eigen ist. Indem ich Ihnen, verehrter Bruder, meinen Gruß entbiete, spreche ich Ihnen nochmals meine Glück- und Segenswünsche aus zu dem Ihnen unlängst anvertrauten Amt als Rektor dieser Hochschule, die zu Recht die »Universität des Papstes« genannt wird. Herzlichst willkommen heiße ich außerdem den Leiter des Instituts »Utriusque Iuris«, Pater Domingo Andrés, sowie die Dekane der Fakultäten für Kirchenrecht und Zivilrecht, denen die Organisation und Leitung dieser juristisch und kulturell bedeutenden Veranstaltung anvertraut ist. 

Das für das Kolloquium gewählte Thema ist ein erneuter Beweis der Verbundenheit dieses Instituts mit dem Stuhl Petri und seiner Treue zum kirchlichen Lehramt. Durch die akademische und erzieherische Tätigkeit seiner beiden Fakultäten für Kirchen- und Zivilrecht widmet es sich der Ausbildung kompetenter Juristen beider Rechtsordnungen, jener der Kirche und jener der bürgerlichen Gemeinschaft. Dies geschieht in einer Perspektive, die, von der eigenen bewährten Tradition ausgehend, sowohl für die Anregungen der heutigen Rechtswissenschaft als auch für jene stets neuen Anforderungen offen ist, die sich in beiden Rechtsordnungen entwickeln. 

2. Gegenstand der in diesen Tagen stattfindenden Diskussionen ist die untrennbare Verbindung zwischen Recht und Gerechtigkeit in der seit der Promulgation des neuen Codex des kanonischen Rechtes und des Codex der Canones der Orientalischen Kirchen geltenden kanonischen Gesetzgebung sowie die Frage, wie diese Verbindung in den verschiedenen Gesetzgebungen und in den grundlegenden Inhalten aufgenommen werden kann, die die zivilen Rechtsordnungen sowohl auf innerstaatlicher als auch auf internationaler Ebene kennzeichnen. 

Bei der Vertiefung dieses Themas dient euch als Untersuchungskriterium der Grundsatz, daß die Gerechtigkeit stets das wesentliche Element jeder Handlung sein muß, die naturgemäß auf das Wohl einer Gemeinschaft und aller ihr angehörenden Personen ausgerichtet ist. Gemäß der dem »utrumque ius« eigenen Methode seid ihr somit beauftragt, die geltende kanonische Gesetzregelung den sich in den Rechtsordnungen der bürgerlichen Gesellschaft entwickelten Neuerungen anzugleichen, um so den wechselseitigen Beitrag der beiden Rechtssysteme zu umreißen und hinsichtlich des Dienstes an der menschlichen Person ihre Übereinstimmungen und Besonderheiten herauszustellen. 

Grundlage der Einheit von Recht und Rechtswissenschaft ist zweifellos eine dynamische Gesetzregelung, Ausdruck nicht allein der strikten Rechtsordnung, sondern vor allem jener »recta ratio«, die sowohl das Verhalten der einzelnen Personen wie auch das der Obrigkeiten bestimmen muß. Dies bekräftigt der hl. Thomas von Aquin, indem er daran erinnert, daß »omnis lex humanitus posita in tantum habet de ratione legis, inquantum a lege naturae derivatur« (Summa Theol., I – II, q. 95, a. 2). 

3. In christlicher Sicht beziehen sich die Begriffe Recht und Gerechtigkeit, insofern sie die Rechtsordnungen bilden, auch auf eine höhere Gerechtigkeit, die zu einem Vergleichskriterium für jedes juristisch relevante Verhalten wird, beim Gesetzgeber sowie bei all jenen, die verschiedenen Tätigkeiten im Bereich der Justiz nachgehen. 

In der Tat ergibt sich bereits aus dem Wesen des Kirchenrechts unmittelbar die Notwendigkeit der Gewährleistung des »salus animarum« als Kriterium der rechten Beziehung zwischen der Rechtsnorm und den legitimen Bestrebungen der »christifideles«. Die Rechtsordnung der kirchlichen Gemeinschaft dient in erster Linie zur Verwirklichung der kirchlichen »Communio«, indem sie in der wesenhaften Gleichheit und in der Verschiedenheit der Rollen jedes einzelnen Menschen die Würde aller Getauften hervorhebt. Diese Verschiedenheit verdeutlicht nicht lediglich eine »funktionale Notwendigkeit«, sondern ist vielmehr Ausdruck der besonderen anthropologischen christlichen Sichtweise und der sakramentalen und institutionellen Realität der Kirche. 

Allein in der organischen »Communio«  der kirchlichen Gemeinschaft findet die Würde der »christifideles« Raum und Möglichkeit für den rechtmäßigen Anspruch auf den Schutz der Rechte und die Übernahme von Pflichten. Daher erfordert die »Communio« die unablässige Präsenz der Nächstenliebe, die dem Recht keineswegs widerspricht, sondern es vielmehr zu einem Werkzeug der Wahrheit erhebt und zur Sicherheit der Normen und somit zum geordneten Ablauf von Rechtsbeziehungen beiträgt, die der Gerechtigkeit nicht zuwiderlaufen. 

4. Die heutige Realität der bürgerlichen Rechtsordnungen zeigt – auch angesichts der kulturellen Unterschiede und der verschiedenen Auffassungen, an denen sich die verschiedenen Rechtssysteme ausrichten –, daß das Rechtsbewußtsein überall Beachtung findet und sogar regelrecht eingefordert wird, wenn es zu Konflikten oder durchgreifenden Haltungen kommt, die einer tatsächlichen Gerechtigkeit zuwiderlaufen. 

Leider sind wir oft Zeugen von Gesetzesformulierungen, die, anstatt die Erfordernisse des Gemeinwohls durch den rechtmäßigen Schutz des einzelnen Menschen zu berücksichtigen, lediglich die Interessen bestimmter Gruppen wahrnehmen und so die Idee der Gerechtigkeit selbst verfälschen und die Rechtsordnung zu einem reinen Werkzeug pragmatischer Regelung herabsetzen. In vielen Fällen entzieht eine rasche und außergewöhnliche Z nahme von Normen – die gerechtfertigt wird im Namen der scheinbaren Notwendigkeit, jeden Aspekt der gesellschaftlichen Ordnung regeln zu müssen – dem einzelnen Menschen und den jeweiligen sozialen Gruppen jene lebensnotwendigen Bereiche, die zur Gewährleistung der tiefsten Bestrebungen des Menschen unerläßlich sind. 

Die Würde der menschlichen Person, auch wenn sie formell als Fundament jedes Rechts anerkannt ist, würde eindeutig verletzt oder mißachtet werden, wenn die Justiz lediglich zu einer Funktion für die Beilegung von Streitigkeiten herabgesetzt würde. Auch die Rolle der Rechtswissenschaft wäre in diesem Fall beeinträchtigt und die Arbeit aller im juristischen Bereich Tätigen allein auf die Anwendung rein technischer Entscheidungen beschränkt. 

5. Die Rechtsordnungen weisen heute besorgniserregende Lücken im Hinblick auf jene Bereiche auf, in denen die Fortschritte auf den Gebieten der Technologie und der wissenschaftlichen Forschung, ebenso wie die neuen Lebensstile, bislang unbekannte Fragen aufgeworfen haben. In diesen Fällen erweist sich die Anwendung von Ersatzfunktionen oder Analogien zu anderen Situationen und Rechtsnormen nicht immer als angemessen, und ebenso zeigt auch die Anwendung jenes Kriteriums seine begrenzte Gültigkeit, demzufolge all das moralisch zulässig und durchführbar ist, was die Rechtsordnung nicht verbietet. 

Eine derartige kulturelle Situation macht in zunehmendem Maße die mangelnde Beziehung zu ethischen Voraussetzungen und zu Grundwerten der Gesellschaftsordnung deutlich, die sich an der objektiven Sittenlehre, dem Fundament jedes rechten menschlichen Zusammenlebens, ausrichten. Daher ist hervorzuheben, daß die gesetzgeberische Funktion auf allen Ebenen keine Rechtfertigung oder Grundlage finden kann, indem sie lediglich von der Anwendung des Mehrheitsprinzips Gebrauch macht, denn, wie ich bereits in meiner Enzyklika Veritatis splendor hervorgehoben habe, »kann die Sittenlehre gewiß nicht von der einfachen Befolgung eines Entscheidungsverfahrens abhängen: Sie wird überhaupt nicht durch die Befolgung von Regeln und Entscheidungsverfahren demokratischer Art bestimmt« (Nr. 113). 

6. Von einer solchen Voraussetzung ausgehend, können auch die Schwierigkeiten der heutigen internationalen Ordnung besser erfaßt werden, in der eine schrittweise Abkehr von unumstößlichen ethischen Bedingungen die Wirkungen der dieser Ordnung eigenen unersetzlichen Grundsätze einzuschränken droht. Dies führt folglich zu einer Abschwächung der Wirksamkeit des mit viel Geduld geschaffenen internationalen Rechts. Mit Bedauern stellen wir gelegentlich eine Haltung in der Völkergemeinschaft fest, die das grundlegende Prinzip »pacta sunt servanda« mißachtet und statt dessen häufig die Praxis des »consensus« vorzieht, um Handlungsweisen anzuwenden, die – oft unterschiedlichsten Interpretationen ausgesetzt – für die Empfänger nur begrenzt verpflichtend sind und somit nur bedingt wirksam sein können. 

Leider handelt es sich um eine nicht nur in den ordentlichen zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern auch in den supranationalen Integrationsprozessen erkennbare Haltung, die häufig darauf abzielt, die materielle und soziale Dimension des Menschen von der ethischen und religiösen Ebene zu trennen, mit unmittelbaren Auswirkungen auch auf die politische und normative Sphäre. Religiöse Sachverhalte können nicht mit rein subjektiven Überzeugungen gleichgestellt werden, und vor allem können sie nicht zu einer individuellen Kulthandlung gemacht werden, denn naturgemäß erfordert die Religion eine gemeinschaftliche Ausdrucksform und angemessene Ausbildung ihrer Mitglieder. 

7. Grundkriterium jeder gültigen Rechtsordnung muß stets die Bezugnahme auf die menschliche Person sein, denn sie ist sowohl in ihrer individuellen als auch in der gemeinschaftlichen Ausrichtung mit einer unveräußerlichen Würde ausgestattet. Es ist somit wichtig, alles zu tun, um die grundlegenden Menschenrechte auf wirksame Weise zu schützen, ohne jedoch um sie herum Theorien und Verhaltensweisen aufzubauen, die lediglich einige Aspekte dieser Rechte oder aber nur jene Rechte bevorzugen wollen, die den besonderen Interessen und Gefühlen eines bestimmten historischen Augenblicks entsprechen. Auf diese Weise würde das grundlegende Prinzip der »Untrennbarkeit« der Menschenrechte vernachlässigt, dessen Fundament die Einheit der menschlichen Person und die ihr innewohnende Würde ist. 

Mit großer Achtung und Wertschätzung für den Einsatz und die Kompetenz, mit der Sie, liebe, verehrte Konferenzteilnehmer, Ihren kulturellen und juristischen Dienst in einem für die Kirche und die zivile Gemeinschaft so wichtigen nd notwendigen Bereich leisten, erbitte ich für Sie sowie für Ihre tägliche Studien- und Forschungsarbeit den mütterlichen Beistand der Jungfrau Maria, »Speculum Iustitiae«. 

Diese Empfindungen und Wünsche begleite ich mit meinem besonderen Apostolischen Segen, den ich gerne auch Ihren Mitarbeitern, den Studenten und all denen erteile, die Ihnen nahestehen. 

Aus dem Vatikan, am 21. März 2002 

JOHANNES PAUL II.

 

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